Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
versteckten Kellerraum, der nichts enthielt als einen Tisch und eine schwache Glühbirne. Doch um wie viel besser war dieses einsame Spiel als die gleißende Leere, in der mein sonstiges Leben gerade zerrann. Im Grunde war es nichts anderes als die Partie Patience am Ende eines Tages, der alle Kraft zum abendlichen Lesen, Schreiben oder Ausgehen für sich behalten hat: kein Glück, aber immerhin eine Pause, die sich zwischen den Stumpfsinn der Arbeit und die Besinnungslosigkeit des Schlafs schob, eine Ablenkung von etwas, das auf Dauer nicht auszuhalten gewesen wäre. Eine warme Fanta in der Wüste.
Von anderen nutzlosen Spielen unterschied sich dieses nur dadurch, dass es die vage Aussicht auf einen großen Gewinn enthielt, ohne dass ich gewusst hätte, wie er aussah und wo ich ihn hätte abholen können.
Und dann waren die Akten ausgelesen. In groben Zügen stand das Bild meines Großvaters im Dritten Reich. Aber ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Der Nazi war erlegt – und nun? Nirgendwo ist der Frühling so ungeduldig wie in Freiburg. Als das Magnoliengewitter verstummt war, so plötzlich wie es begonnen hatte, war da nichts mehr als Helligkeit und Hitze.
Ich traf Felix im Biergarten auf dem Schlossberg, entschlossen, ihm alles zu erzählen. Doch erschrocken stellte ich fest, dass es gar keine Worte gab für das, was da seit Wochen mit mir los war. Zum Abschied probierte ich einen Witz, er misslang. Vielleicht ging es aber auch gar nicht um Worte. Ich schlich den Berg hinunter, dem prallen Frühsommertag schutzlos ausgeliefert. Es war unmöglich, nach Hause oder in die Bibliothek zu gehen, jeder geschlossene Raum wäre mir wie ein Käfig vorgekommen. Um aber dem Fluchtimpulsnachgeben zu können, war es zu heiß. Irgendwann fand ich mich auf der Treppe der kleinen Adelhauser Klosterkirche wieder, unter dem Schatten einer alten Kastanie, den Kopf im Schoß vergraben. So tat es immerhin etwas weniger weh. In der Nähe plätscherte ein Wasserstrahl, sonst war es still – bis plötzlich aus einem offenen Fenster eine klare Querflötenmelodie erklang, nicht zu forsch, nicht zu wehmütig, aber von großer Kraft. Sonst hätten sich die Tränen nicht gelöst. Dann eine Stimme über mir, ein Mädchen, vermutlich Studentin, nicht zu hübsch, nicht zu hässlich, aber angenehm unaufdringlich. Ob sie mir helfen könne. Ich schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf. Sie ging. Wie sehr sie mir schon geholfen hatte, konnte ich ihr nicht mehr sagen.
Von diesem Erlebnis ermutigt, beschloss ich kurz darauf, mir sogenannte professionelle Hilfe zu suchen. Aber wo? Die Stadt, insbesondere mein Viertel, war vollgepackt mit hochsensiblen Psychotherapeuten. Doch mich um einen von ihnen zu bemühen, schien mir so aufdringlich und hoffnungslos wie an einer der Fachwerkvillen in der Nachbarschaft zu klingeln, um ein Gästebett zu fordern. Ich tat, was man halt tut, wenn man sich seine Probleme eigentlich nicht leisten kann. Ich wählte die Nummer eines Notrufs.
Einige Tage später wartete ich in einem kleinen, von Betonpfeilern und einem Glasdach umschlossenen Lichthof, in dem so viele Zimmerpflanzen in einer von braunen Speicherkügelchen gehaltenen Nährstoffbrühe vor sich hinwucherten, dass er kaum noch Licht enthielt. Psychosozialer Notdienst des Studentenwerks Freiburg e. V. Das niedrige Zimmer, in das ich bald gerufen wurde, hatte keine Fenster, nur eine Glasfront zum Dschungel. Ein albtraumartiger Tunnel, am einen Ende tödlicher Wald, am anderen eine Wand.Mir gegenüber saß eine blonde Frau und sah mich an, als ob ich etwas von ihr wollte. Das stimmte ja auch, aber dass man hier initiativ werden musste, nur weil es umsonst war, irritierte mich doch etwas.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte sie irgendwann.
Ja, wenn ich das wüsste. Sagen Sie es mir, dachte ich, während ich sagte: »Mir geht es nicht gut.«
Was Sie nicht sagen, sagte ihr Blick, während ich sie sagen hörte: »Beschreiben Sie es doch.«
Es war wie mit Felix, ich fand keine Worte. Nur dass es nicht Felix war.
»Na ja, ich fühle mich irgendwie so leer«, sagte ich schließlich verzagt, fast abwiegelnd, »orientierungslos. Ich weiß nichts mit mir anzufangen.«
»Das Übliche also.«
Wie bitte? Keine zwei Minuten in professionellen Händen und schon die Gewissheit, dass es doch noch schlimmer ging. Mit letzter Kraft nahm ich erneut Anlauf.
»Ich kann nicht richtig arbeiten. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich bin so müde.«
»Haben
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