Flut
gläubig werden und konnte es nicht.
Macht nichts. Gott stört so was nicht. Aber was ihm bestimmt nicht gefällt, sind Leute, die mit ihrem Leben spielen. Du bist ja ganz blau. Blaue Menschen wachen am nächsten Tag mit Unterkühlung im Krankenhaus auf. Am besten, du gehst schnell nach Hause.
Ich glaube, ich würde lieber noch ein bisschen hierbleiben.
Sie sieht ihm direkt in die Augen, und obwohl er sich anstrengt, muss er den Blick schließlich abwenden.
Dann nimm mal einen Schluck Mate, um dich aufzuwärmen. Sie drückt auf die Thermoskanne und gießt das dampfende Wasser auf die grünen Blätter. Beta hat sich währenddessen selbstständig gemacht und kommt jetzt auf ihr Herrchen zugehinkt. Jasmim reicht ihm die Kalebasse und mustert die Hündin neugierig.
Wie heißt dein Hund?
Beta, es ist eine sie.
Was hat sie denn?
Sie wurde überfahren. Die Tierärztin wollte sie einschläfern lassen, aber das wollte ich nicht, und letzten Endes hat sie sich wieder erholt. Sie soll eigentlich zur Physiotherapie, damit sie wieder laufen lernt, aber ich hatte die Idee, stattdessen mit ihr ins Wasser zu gehen. Eine Zeit lang kam fast jeden Abend ein Typ mit seinem Pitbull zu den Felsen unten vor meiner Wohnung. Stundenlang ließ er den Hund eine Plastikflasche aus dem Meer apportieren. Das fiel mir dann wieder ein. Ich hab ein bisschen Ahnung von postoperativer Wassertherapie. Das kann bei Wirbelsäulenverletzungen sehr hilfreich sein. Warum sollte es bei Tieren nicht auch funktionieren? Also dachte ich, ich versuch’s mal. Vielleicht war es auch einfach Intuition. Jedenfalls scheint es ihr zu helfen. Als sie entlassen wurde, hat sie noch nicht mal mit dem Schwanz gewedelt. Mittlerweile hat sie nicht nur große Fortschritte gemacht, sie geht auch noch gern ins Wasser. Hast du sie schwimmen gesehen? Jetzt lernt sie gerade, durch Wellen zu tauchen.
Während er den heißen Mate schlürft, entspannt sich sein Körper allmählich.
Gehst du jeden Tag mit ihr ins Wasser?
Ja.
Sie sieht die Hündin an und sagt nichts mehr, bis er den Mate ausgetrunken hat und ihr die Kalebasse zurückgibt.
Ich muss jetzt gehen. Mir ist kalt. Hör mal, ich …
Ich ruf dich nächste Woche an, dann verabreden wir uns.
Ich hab auf deinen Anruf gewartet. Ich hab jetzt nichts zu schreiben dabei, aber wenn du dich meldest …
Ich ruf dich an.
Das würde mich sehr freuen. Ich wünsch dir einen schönen Sonntag.
Dir auch. Wärm dich gut auf.
*
Sie ruft nicht an, taucht aber zwei Tage später, als gerade die Sonne untergeht, unangekündigt bei ihm auf. Sie sitzen vor der Wohnung, trinken Mate und schauen aufs Meer, bis die Nacht das letzte Licht verschluckt, gehen dann hinein und reden vor dem halbgeöffneten Fenster weiter. Sie streichelt Beta und erzählt, dass sie es vermisst, im Mercado Público in Porto Alegre Mate zu kaufen. Den gemischten, weißt du? Grünes Blatt zusammen mit grob gemahlenem Ximango. Sie behauptet, keinen Hunger zu haben, ändert dann aber ihre Meinung, als er den Kühlschrank durchsucht und ankündigt, dass im Gefrierfach noch eine Packung Chicken-Nuggets liegt. In ihrer Kindheit hat sie die Nachmittage mit Chicken-Nuggets und Ketchup vor dem Fernseher verbracht. Sie wiederholt, dass sie nicht trinkt, wenn sie Motorrad fährt, nimmt dann aber doch ein Glas chilenischen Rotwein. Jasmim hört sich die Zusammenfassung vom Selbstmord seines Vaters aufmerksam an und bemerkt, es gäbe bekannte Fälle von Menschen, die sich aus Überdruss oder Erschöpfung umgebracht hätten, diese Menschen betrachteten den Tod als eine pragmatische Frage. Man lebt, solange es sich lohnt, solange es etwas bringt. Sie interessiert sich für das Thema Selbstmord. Die meisten Leute glauben, Menschen, die sich umbringen, seien depressiv, hätten sich aufgegeben oder könnten das Leben nicht mehr ertragen, es gibt jedoch verschiedene Arten von Selbstmord, zum Beispiel den Ehren-Selbstmord, den Kamikaze-Selbstmord, den altruistischen Selbstmord, den Alters-Selbstmord, den Selbstmord aufgrund einer unheilbaren Krankheit, den Selbstmord als Beweis oder zur Verbreitung einer Idee, den Selbstmord aus Protest. Sie erzählt voneinem jungen amerikanischen Psychologen, der sich kürzlich mitten auf der Straße umgebracht hat und ein zweitausend Seiten langes Pamphlet hinterließ, in dem es um Auschwitz ging und um den Aufstieg eines vom Menschen erschaffenen technischen Gottes, ein gigantisches philosophisches, theologisches, soziologisches und
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