Flut
naturwissenschaftliches Argumentationsgerüst, nur um einem Schuss in den Kopf einen Sinn zu verleihen. Sie hat an die zweihundert Seiten davon gelesen, der Text steht in voller Länge im Internet. Danach erzählt er ihr, was er über seinen Großvater herausgefunden hat, und sie warnt ihn, vorsichtig mit irgendwelchen alten Geschichten zu sein, in denen es um Tod und Geheimnisse gehe, die Menschen in Garopaba seien sehr abergläubisch, sie habe im Zusammenhang mit einer Legende über vergrabene Schätze selbst schon Probleme damit gehabt. Es heißt, wenn jemand drei Mal hintereinander träumt, an einem bestimmten Ort sei ein Schatz vergraben, dann stimmt das auch. Wenn aber die Person, die von dem Schatz geträumt hat, ihn ausgräbt, dann würde sie sterben. Du musst nur mal rumfragen, es gibt Leute, die glauben das wirklich. Letztes Jahr soll jemand an der Praia do Ouvidor deswegen gestorben sein. Er hat an der Stelle, von der er geträumt hat, ein Loch gegraben, hat tatsächlich etwas gefunden und ist dann wenig später zu Hause ohne ersichtlichen Grund tot umgefallen. Vergraben wurden diese verfluchten Schätze angeblich von Jesuiten, die im siebzehnten Jahrhundert, noch bevor die Gegend besiedelt wurde, die Indianer bekehren und mit nach Rio de Janeiro nehmen wollten. Wusstest du, dass die Stadt Tubarão nach einem Indianerhäuptling benannt wurde, der sich geweigert hat, zum christlichen Glauben zu konvertieren? Er erklärte, Gott habe ihn nicht für den Himmel, sondern für die Erde geschaffen. Tubarão heißt auf Tupi-Guarani ›Wilder Vater‹. Das hat nichts mit dem portugiesischen Wort für Haifisch zu tun. Steht alles in den Geschichtsbüchern über Garopaba, ich kann dir eins leihen, wenn du willst. Jedenfalls glaubendie Leute, dass die Jesuiten hier überall Silber und Goldmünzen und solche Sachen vergraben haben. Vor etwa fünfzehn Jahren hat man in Encantada eine Art Vase in Form eines Schafskopfs gefunden, aus einem Metall, das wie Bronze aussah. Niemand konnte sagen, was es war. Hast du schon mal vom Königsweg gehört? Es gibt massenweise Pensionen und Wohnanlagen, die so heißen. Das war ein Wanderweg, der heute noch durch die Hügel führt und früher von den Jesuiten und Kolonisatoren benutzt wurde. Ursprünglich war es ein alter Indianerweg, der vom Pazifik aus quer durch das gesamte Inkareich bis an die Küste von Santa Catarina führte. Viele Legenden gehen auf diese Zeit zurück und … er unterbricht sie und fragt, inwiefern sie deswegen Probleme gehabt habe. Na ja, ich kannte eben diese Legende von den vergrabenen Schätzen und hab dann wohl genau deswegen am Ende selbst geträumt, dass unter der Zementtreppe vor meinem Haus ein Schatz liegt. Das erste Mal war vor fast einem Jahr. Und vor Kurzem hab ich dasselbe nochmal geträumt. Dummerweise hab ich das ein paar Leuten bei mir in der Nachbarschaft erzählt. Als ich neulich im Supermarkt war, sprach mich ein alter Mann an. Ich kannte ihn vom Sehen, er heißt Senhor Joaquim, ein Einheimischer, der irgendwo an der Lagune Wurfnetze knüpft. Ich weiß nicht genau, wie alt er ist, wahrscheinlich um die achtzig. Er ist blind auf einem Auge und schon ziemlich am Ende. Er fasste mich am Arm und sagte, er habe von meinen Träumen gehört. Er warnte mich, ich dürfte den Schatz auf keinen Fall ausgraben, falls ich noch ein drittes Mal davon träumte, sonst würde ich sterben. Ich sollte ihn holen, dann würde er ihn ausgraben. Zuerst fand ich das lustig, aber dann bekam ich langsam Angst, zumal er die Sache ziemlich ernst zu nehmen schien. Seitdem lässt er mich nicht aus den Augen, ich hab ihn schon zwei Mal um mein Haus schleichen sehen, zusammen mit einem Jungen, der aussieht wie ein Psychopath, wahrscheinlich sein Enkel oder so. Ganz schön unheimlich. Solche Legenden mögen jaharmlos sein, aber die Leute, die daran glauben, sind es nicht unbedingt. Mit der Geschichte von deinem Großvater scheint es sich ähnlich zu verhalten. Du solltest dich da lieber nicht reinsteigern. Der Aberglaube ist manchmal stärker als die Wahrheit. Du wirst nur bis zu einem gewissen Grad herausfinden, was damals wirklich passiert ist. Der Rest ist Legende. Und das hat doch auch was, oder? Einen Großvater zu haben, der eine Legende ist. Stimmt, das hat was. So hatte er es noch nie gesehen. Er würde gern mehr Dinge so sehen wie sie und würde ihr das auch gern sagen, aber er weiß nicht, wie. Sie macht eine Pause, isst die letzten Nuggets und nippt an ihrem Wein.
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