Flut
irrsinniger Lautstärke, und bei jeder guten Antwort ihres Kandidaten applaudieren die Leute und feiern ihn mit Zurufen und Parolen. Es sind Menschen jeden Alters, sowohl respektabel anmutendeFamilien als auch Banden von Jugendlichen, die wie Fischschwärme durch die Menge strömen, dazwischen nervöse Parteigenossen mit Sonnenbrillen, die das Spektakel koordinieren. Kinder lehnen an Autos oder sitzen auf den Schultern ihrer Eltern und beobachten alles aufmerksam, während die Alten mit frischem Schwung und erhobenen Fäusten jubelnd, wenn auch ein wenig überfordert vom allgemeinen Getöse, von einem Ende zum anderen laufen. Am Rande des Platzes tauchen Anhänger der Arbeiterpartei mit roten Fahnen auf und tauschen Beschimpfungen und Drohungen mit ihren Gegnern aus. Seitdem er von dem Unbekannten ins Gesicht geschlagen wurde, vermeidet er es, den Einheimischen zu nahe zu kommen. Aber offenbar richtet sich an diesem Tag jegliche Aggression gegen den jeweiligen politischen Gegner und seine Anhänger, er selbst steht außerhalb des Tumults, neutral und gleichzeitig interessiert am Ausmaß dieser kollektiven Raserei. Ein paar Autos kriechen durch die kleinen Straßen um den Platz herum und hupen pausenlos. Aus den Lautsprechern hört man den Bürgermeister der Behauptung seines Herausforderers, er habe die Grundsteuer erhöht, mit dem Argument widersprechen, diese sei nur der Inflation angepasst worden, woraufhin die Menge seine Antwort mit Flaggengeschwenke, Gehupe und Gebrüll feiert. Geschminkt und aufgedonnert defilieren mehrere Mädchen mit glänzenden Lippen, glattem Haar, Plateauabsätzen und ihren besten, engsten Jeans durch die Menge. Ein verwahrloster Fischer versucht hartnäckig, die anderen anzustacheln, und fordert sie auf, »Das vereinigte Volk wird niemals besiegt werden« zu skandieren, jedoch mit begrenztem Erfolg. Viele sind betrunken und treten Bierdosen über den Platz. Die unerwartete Ankunft zweier Wagen mit Oppositionsanhängern sorgt für Aufruhr. Die Anhänger der Arbeiterpartei schwenken rote Fahnen aus den offenen Wagenfenstern und versuchen, sich einen Weg durch die besetzten Straßen zu bahnen. Die Menge auf dem Platz fängt an, einen anderen Wahlkampfhitzu singen, so laut, dass man die Debatte nicht mehr hört. Die Autos werden mit blauen Aufklebern beklebt. Einer der Fahrer versucht, einem der Gegner die blaue Fahne zu entreißen, worauf ein wilder Streit ausbricht. Eltern bringen ihre Kinder in Sicherheit, aber nach kurzer Zeit hat sich die Situation wieder beruhigt, die beiden Autos passieren eine Schneise, die sich in der Menge öffnet, und verschwinden hinter der nächsten Ecke. Der Kandidat der Arbeiterpartei lässt sich negativ über die Ärzte in Garopaba aus, was dem Bürgermeister Munition für einige rhetorische Salven liefert, mit denen er siegreich aus der Debatte hervorgeht. Kurz darauf sieht man die beiden Kandidaten oben auf dem Vorhof der Kirche mit der lokalen Presse sprechen, einige Minuten später kommen sie die Treppe herunter. Der Oppositionskandidat hält sich diskret im Hintergrund, während der Bürgermeister jede einzelne Stufe auskostet, die Arme ausgebreitet wie ein Kaiser, und untermalt vom Kampagnenjingle seiner Partei der Bevölkerung entgegengeht. Er ist groß und sieht aus wie ein amerikanischer Schauspieler, einer von denen, die in Der Pate umgebracht werden. Mittlerweile hat sich vom Lautsprecherwagen angeführt ein Autokorso gebildet. Er kauft sich im Imbiss an der Ecke ein Bier und begleitet den Umzug in Richtung Stadtzentrum. Schon bald bilden Dutzende von Autos und Hunderte von Fahrrädern und Motorrädern eine lange Schlange, die durch die engen Gassen zur Hauptstraße kriecht. Nach und nach durchnässt der immer wieder einsetzende Regen die Teilnehmer. Hupen, aufheulende Motoren und Fehlzündungen vermischen sich mit dem ständig wiederholten Wahlkampfjingle zu einer infernalischen Sinfonie. Unbeteiligte Anwohner sehen ihnen von ihren Gärten oder vom Straßenrand aus verwundert zu. Die Männer pfeifen den nassgeregneten Mädchen hinterher, die sich aus den Autofenstern lehnen und ihr Dekolletee zeigen, die Alten beobachten alles leicht gelangweilt, trinken dabei ihren Mate und rauchen. Der Regen wird stärker, und er hatlangsam genug. Auf dem Nachhauseweg trinkt er zwei Biere, in einer der Kneipen erzählt man sich, jemand habe versucht, einen politischen Gegner zu erstechen, und dabei den Arm eines Kindes gestreift. Ein Mann prahlt damit, seine
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