Flut
mit gelben Blumen drauf, große goldene Ohrringe, im linken Ohr ein Ringpiercing, die Locken fallen ihr auf die Schultern, ihre dunkle Haut schimmert golden im Licht, weit aufgeblähte Nasenlöcher, die Augen klein, die vollen Lippen glänzend vom Balsam. Ihr Blick wirkt ernst, im halbgeöffneten Mund sieht man die Spitzen ihrer weißen Zähne, es ist ein verhaltenes Lächeln, als wäre sie eher verwundert als glücklich. Er trägt kein Hemd, ist unfrisiert und bärtig und lächelt breit übers ganze Gesicht, und zuerst glaubt er, sie habe ihm ein Foto von sich mit einem anderen Typen geschickt, aber eigentlich kann nur er es sein.
Jeden Morgen läuft er barfuß bis Siriú oder fährt mit dem Fahrrad nach Silveira und durchquert dann schwimmend die Bucht. Die schüchternen Fischschwärme im durchsichtigen Wasser sind die ersten und einzigen Boten eines nahenden Frühlings in jenen Wochen permanenter Kälte. Beta ist jetzt ständig draußen, entfernt sich aber nicht weit von zu Hause, außer bei den frühmorgendlichen Spaziergängen, wenn sie immer sicherer über den Strand humpelt und im Meer schwimmt wie kein anderer Australian Shepherd zuvor. Sie begleitet ihn jedes Mal, wenn er zu Fuß das Haus verlässt, und läuft erst dann allein zurück, wenn er sie mit einem kurzen, trockenen Pfiff und einem kräftigen Tritt auf den Boden dazu auffordert, eines der Zeichen ihrer neuen Sprache, die langsam jene ersetzen soll, die sich während des fünfzehnjährigen Zusammenlebens zwischen ihr und seinem Vater entwickelt hatte. Von den langen Strandläufen hat er zum ersten Mal seit Jahren Knieschmerzen. Er verbringt die Abende bei geschlossenen Fensterläden in seinem dunklen, leicht muffigen Zimmer. Mit Eisbeuteln auf den Knien sitzt er auf dem Bett, spielt Fifa Soccer auf der Playstation und isst Nudeln mit Sauce oder Fleisch mit Reis direkt aus dem Topf. Er hat ständig Hunger und steckt sich meistens Schokoriegel und Kekspackungen ein. Wenn er das Haus verlässt, fühlt er sich beobachtet und meidet Blickkontakte. Er ist schlagartig müde und dann wieder wach. Er vergleicht sein Gesicht im Spiegel mit dem Foto von seinem Großvater und stellt fest, dass sein Bart schon etwas länger ist. Sein braungebrannteres, schmaleres und gealtertes Gesicht sah dem Foto noch nie so ähnlich wie jetzt, und jedes Mal, wenn er nach kurzem Schlaf erwacht, hat er das Gefühl, stundenlang geträumt zu haben, er sei sein Großvater, der einsam über Hügel und Felsküsten streift, durch Regen und Gewitter, Wellen, die sich an den Felsen brechen, vorbei an trampelnden Kuhherden, im Gras raschelnden Schlangen und flüchtenden schwarzen Vögeln. Draußen regnet es leise. Die letzten Wale brechen mit ihrenJungen in Richtung Antarktis auf und mit ihnen auch die letzten Touristen des Winters.
Nachdem die Nachricht von seiner Kündigung unter den Schülern die Runde gemacht hat, erhält er Einladungen zu Abschiedsessen und Ausflügen, die er mit höflichen Ausreden ablehnt. Nach einiger Zeit lädt er nicht mal mehr sein Handy auf.
Als er am Samstagmorgen seine kurze Laufbahn als Schwimmlehrer in der Academia Swell beendet, herrscht ungewohnte Unruhe in der Stadt. Trotz des Nieselregens sind viele Bewohner auf den Straßen unterwegs, und auf dem Nachhauseweg fällt ihm auf, dass die meisten kleine blaue oder rote Fahnen dabeihaben und über Autoradios, Kopfhörer und Transistorradios die Nachrichten hören. Ein Taxifahrer erklärt ihm, dass auf Radio Garopaba eine Live-Debatte zwischen den beiden Bürgermeisterkandidaten läuft, dem amtierenden der Fortschrittspartei und seinem Herausforderer der Arbeiterpartei. Seit Wochen drehen sich die Gespräche in der Stadt um Wahlversprechen wie die Asphaltierung von Straßen oder die Errichtung von Gesundheitszentren und um Anzeigen wegen Begünstigung und Korruption. Im Internet kursieren Ton- und Filmaufnahmen, die angeblich Stimmenkauf in flagranti aufdecken, und es geht das Gerücht, dass der Bürgermeister sich von öffentlichen Geldern einen neuen Swimmingpool hat bauen lassen, was Hunderte seiner Anhänger, größtenteils Einheimische, nicht davon abhält, sich auf der Praça 21 de Abril zu versammeln und zwischen einigen wenigen bunten Regenschirmen unzählige blaue Fähnchen zu schwenken. Radio Garopaba sitzt in einem Anbau der Pfarrkirche, die große Treppe, die zur Kirche führt, ist von einem Absperrband und zwei Polizisten blockiert. Ein Lautsprecherwagen überträgt die Debatte in
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