Flut
Kellner, Müllmann oder Briefträger. Bei rauer See und Regen braucht man fünf oder sechs Männer, um ein Netz einzuholen, und es gibt nicht mehr genügend Leute, die diese Arbeit machen. All diese Boote hier, alle, er deutet mit der Nadel in der Hand auf die Bucht, werden in zehn Jahren Ausflugsfahrten für Touristen machen.
Als ich nach Garopaba kam, stand in der Zeitung, dass letztes Jahr der größte Schwarm Corvinas in der Geschichte der Stadt gefangen wurde. Mit einem Foto von einem Fischberg so groß wie ein Laster.
Jeremias lacht und schüttelt den Kopf, als dürfe er nicht darüber reden, erzählt dann aber, dass der Schwarm auf hoher See von einem großen Fischkutter gefangen worden war. Die Aktion war illegal, industrielle Fischerei war zu der Jahreszeit nicht erlaubt. Die Fischer aus dem Ort fanden das heraus und fuhren mit ihren Booten dorthin. Sie drohten mit Gewalt, die Besatzung des Kutters bekam es mit der Angst zu tun, und als die Gemüter sich beruhigt hatten, schlossen sie einen Kompromiss. Die meisten der Fische waren schon tot. Fünf Tonnen blieben auf dem Kutter, und die Fischer von Garopaba kriegten den Rest. Als sie zurückkamen, sah es so aus, als hätten sie die vierundsechzig Tonnen selbst gefangen, mit ihren eigenen Netzen. Diese Geschichte, sagt er, zeigt doch nur noch deutlicher, dass unsere Zeit abgelaufen ist. Es lohnt sich nicht mehr, kiloweise Nylonfaden zu kaufen und Leute zu bezahlen, die ein handgemachtes Netz knüpfen. Industrienetze sind billiger. Dieses Netz, an dem ich hier sitze, ist viereinhalb Kilometer lang. Ich brauche noch drei Tage, bis es fertig ist. Früher haben das die Frauen zu Hause gemacht. Das ist auch vorbei. Sie finden, es sei keine Arbeit für sie. Die jüngeren wissen schon gar nicht mehr, wie es geht. Warst du schon mal in Laguna? Da können die Frauen noch Netze knüpfen. Es macht wirklich Freude, ihnen zuzuschauen. Sie sind so schnell, dass du nicht mal die Nadel siehst. Hier gibt’s das nicht mehr. Bald gehen sie alle zur Universität, dann machen die jungen Leute ihre Abschlüsse und hauen so schnell wie möglich von hier ab. Ganz abgesehen vom Klima. Ein einziges Chaos. Die Leute reden dauernd darüber, ob das Klima sich ändert, aber wir wissen das auch so. Früher war klar, dass im Oktober das Meer ruhig war, der Wind von Süden kam und keine Wolke am Himmel stand.Bald ist Oktober, und dann wirst du ja sehen, was das für ein Chaos ist. Für mich ändert das nichts mehr, der größte Teil meines Lebens liegt hinter mir. Dein Hund geht gern ins Wasser, oder? Ihr schwimmt weit raus zusammen. Ich hab euch gesehen.
Ja, stimmt. Sie wurde angefahren und konnte nicht mehr laufen. Ich hab ihr das Schwimmen beigebracht, und jetzt ist sie fast geheilt.
Wirklich? Sachen gibt’s. So was hab ich noch nie gesehen.
Sie sieht ihr Herrchen ja auch ständig schwimmen, wahrscheinlich hat sie das von mir.
Liegt wohl in der Familie.
Die beiden grinsen sich an.
Und du hast wirklich keine Ahnung, wer dir diesen Schlag da verpasst hat?
Ich konnte nichts erkennen. Wahrscheinlich die Jungs, die immer auf den Felsen rumhängen.
Falls du rausfindest, wer es war, oder falls es wieder passiert, sag mir Bescheid.
In Ordnung.
Ich kenn hier jeden.
Danke.
Er steht auf und streckt sich.
Bis bald, Jeremias. Ich wollte eigentlich noch schwimmen gehen, aber jetzt ist es zu spät. Ich mach mir etwas zu essen und geh dann zur Arbeit. Viel Erfolg mit deinem Netz.
Jeremias nickt ihm zu, ohne den Blick von Netz und Nadel abzuwenden. Er sitzt die nächsten drei Tage dort, von morgens bis abends flickt er sein Netz mit dem Rücken zum Meer, am vierten Tag ist es verschwunden.
Während der letzten Nachmittage im Schwimmbad ist er mit dem Kopf schon woanders. Die Beharrlichkeit, mit der er normalerweise seine Schüler anweist und korrigiert, ist einer melancholischen Geistesabwesenheit gewichen. Bei einem von Tábuas seltenen Besuchen im Schwimmbad sagt er, ersolle doch lieber direkt aufhören, statt so zu tun, als würde er arbeiten.
Eines Morgens bringt ihm der dürre Briefträger einen Umschlag, der weder von der Telefongesellschaft noch von seinem Stromanbieter stammt. Seine erste persönliche Post an diesem Ort ist von Jasmim. Im Umschlag steckt ein mit ausladender Handschrift verfasster Brief 7 und ein Foto, das sie an der Praia da Ferrugem von ihnen beiden gemacht hat. Sie sitzen am frühen Abend an einem Tisch in Zados Bar. Sie trägt ein weißes rückenfreies Top
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