Flut

Zigarre raucht. Er grüßt zurück. Auf dem Weg zur Praia do Ouvidor läuft er an einem Angler in blauem Regenmantel vorbei und findet kurz darauf in einem kleinen Erdrutsch am Hang zwei Pfeilspitzen. Die Gasthäuser und Bars am südlichen Ende der Praia do Rosa sind noch geschlossen oder werden renoviert. Betonmischmaschinen,Schaufeln und gestapelte Balken ruhen auf überschwemmten und vorübergehend verlassenen Baustellen. Er hat den ganzen Tag noch keine Menschenseele gesehen und überlegt daher nicht lange, bevor er sich auszieht und sich unter die Stranddusche stellt, die auf einer Sandfläche zwischen zwei Bars steht. Schließlich findet er einen sauberen und trockenen Schlafplatz auf dem Steg einer kleinen Ladengalerie. Morgens wacht er von Betas Gebell auf und sieht in der Nähe mehrere Autos parken. Auf dem Steg nebenan versucht ein rothaariger Surfer fluchend, den Reißverschluss seines Neoprenanzugs hochzuziehen. Er steht auf und bietet ihm Hilfe an, aber der Surfer weicht zurück, bedankt sich, greift sich sein buntes Board und läuft mit offenem Reißverschluss zum Strand. Die Wellen sind riesig, und ab und zu sieht man eine kleine mutige Gestalt im schwarzen Anzug eine Wellenwand hinabschießen und einen Riss in die Wasseroberfläche schneiden. Es regnet immer noch, und die Läden sind geschlossen. Die Anwesenheit der Surfer, die wahrscheinlich den Wettervorhersagen gefolgt sind und teilweise von weit her kommen, um den mächtigen Swell auszunutzen, deutet darauf hin, dass Samstag oder Sonntag ist. Ihm wird klar, dass er die zeitliche Orientierung verloren hat.
    An jenem Morgen läuft er an der Praia do Luz entlang bis zur Mündung der Lagoa de Ibiraquera, an der ein eisiger Wind weht. Zitternd vor Kälte isst er die letzten Reste seiner Verpflegung, entscheidet sich dann gegen den Strand und geht den Weg hoch bis zur nächsten Kreuzung. Gelegentlich kommen Autos vorbei, aber niemand hält an. Schließlich bemerkt ihn der Fahrer eines weißen Pick-ups und fährt rechts ran. Er begrüßt den Fahrer durch den Spalt der leicht geöffneten Scheibe.
    Guten Morgen.
    Tag.
    Wo fahren Sie hin?
    Nach Tubarão. Über die Bundesstraße.
    Hm.
    Wohin willst du denn?
    Nach Garopaba.
    Ich kann dich bis Araçatuba mitnehmen.
    Okay. Danke.
    Der Hund muss auf die Ladefläche.
    Ich geh dann mit nach hinten. Sonst springt sie noch runter.
    Der Fahrer schaut nach vorn, in der einen Hand den Schaltknüppel, in der anderen gleichzeitig das Lenkrad und einen Zigarillo. Er ist blond und pausbackig, hat rötliche Haut und ist unrasiert. Er trägt eine graue Strickjacke, Schal und Schiebermütze. Der Gummi der Scheibenwischer fährt drei Mal knirschend über die Windschutzscheibe.
    Ach, was soll’s, kommt einfach rein.
    Der Fahrer lehnt sich rüber, um die Beifahrertür zu öffnen.
    Mit der Hündin?
    Er nickt und winkt sie in den Wagen.
    Er stellt den Rucksack auf den mittleren Sitz und setzt Beta zwischen seine Füße.
    Ich bin ziemlich nass.
    Das trocknet, sobald die Sonne rauskommt, mach dir keine Sorgen.
    Der Pick-up holpert über die vom Regen zerlöcherte Straße. Der Fahrer bläst den Rauch durch den Fensterspalt und räuspert sich ab und zu.
    Wo kommst du her?
    Aus Garopaba.
    Arbeitest du hier in Ibiraquera?
    Nein, ich hab nur einen Ausflug gemacht.
    Im Regen?
    Als ich zu Hause losgelaufen bin, dachte ich, es würde nach zwei, drei Tagen aufhören, war wohl keine gute Idee.
    In Blumenau wird es immer schlimmer mit den Überschwemmungen. Ein Freund von mir arbeitet im Hafen von Itajaí, er sagt, das Wasser steigt immer weiter.
    Ach, es gibt Überschwemmungen?
    Hast du kein Fernsehen gesehen? Die sprechen doch von nichts anderem. Es gibt Spendenaufrufe für Obdachlose, und geplündert wird auch schon. Ganz abgesehen davon, dass sie jetzt eine neue Ausrede haben, um die Erweiterung der Bundesstraße nochmal zwei Jahre hinauszuschieben. Jeder Monat Verspätung bedeutet eine Zehn-Zimmer-Villa mehr auf den Hügeln. Im Naturschutzgebiet natürlich. Bauunternehmer, Zulieferer, alle schwimmen sie in staatlichem Geld. Im ursprünglichen Projektplan haben sie die Brücke in Laguna und den Tunnel durch den Morro dos Cavalos und noch einiges mehr einfach vergessen. Bei der letzten Revision des staatlichen Infrastrukturförderungsprogramms wurde die Fertigstellung auf 2010 verschoben. Ich kann dir sagen, wann die fertig werden. Niemals.Ganz im Ernst, niemals. Sobald ein Teilstück fertiggestellt ist, muss ein anderes, das zwei Jahre