Flut
nach zeichnen sich im Licht der Sterne die Silhouetten ab. Auf dem Weg zum Strand hört er nur die Pfoten der Hündin über den Asphalt trippeln. Das schwarze Meer schnauft in der Dunkelheit wie ein großes, schlafendes Tier, die Wellen brechen sich dazu im Rhythmus eines ruhigen Atmens. Einsame Gestalten laufen durch den Sand. Einige der Fischerhütten sind von Gaslampen erleuchtet. Er trägt die erschöpfte Beta die Treppenstufen hoch und setzt sie auf dem Pfad wieder ab. Im Licht der Glut einer Zigarette erkennt er drei oder vier Gestalten, die ihm entgegenkommen, und als sie sich kurz vor seinem Haus begegnen, erwischt ihn mit voller Wucht eine Faust im Gesicht, und er stürzt auf den schmalen Grasstreifen, der den Pfad von den Felsen trennt. Das wenige, was er eben noch erkennen konnte, verschwimmt, und in seinen Schläfen hämmert das Blut. Während er versucht, sich zu sammeln, hört er Beta winseln. Er kommt langsam auf die Beine und sieht die Gestalten am Ende des Pfades verschwinden. Der Schmerzbreitet sich aus, und er spürt, wie sein linkes Auge anschwillt. Beta lehnt an seinem Bein. Er hockt sich hin, um sie zu streicheln. Sie scheint unverletzt, wahrscheinlich hat sie einen Tritt abbekommen. Er will etwas rufen und seine Angreifer verfolgen, aber sie sind schon nicht mehr zu sehen. Sie haben weder gelacht, noch haben sie ihn provoziert, beschimpft oder bedroht. Sie waren plötzlich da und dann wieder weg, wie eine Erscheinung, aber ihre Botschaft haben sie hinterlassen.
Er wacht mit einem blauen Auge auf, allerdings ist die Schwellung deutlich abgeklungen, nachdem er sie am Abend noch mit Eis gekühlt hatte. Mehrere Gefäße sind geplatzt. Der Schmerz kommt und geht und breitet sich von der Stirn bis zum Kiefer aus. Er geht mit der Hündin am Strand spazieren und schaut ihr ein paar Minuten zu, wie sie allein den Wellen trotzt. Als er zurückkommt, sieht er einen Fischer auf dem Haufen aus weißen Nylonfäden und blauem Tauwerk sitzen, der seit einigen Tagen auf den Felsen liegt. Ein kräftiger Kerl mit spärlichem Bart und lockigem Haar. Er hat nur eine schmutzige weiße Hose und Flipflops an. Seine Haut ist von der Sonne verbrannt. Er bleibt kurz stehen und schaut dem Mann zu, wie er mit den schnellen, hypnotischen Bewegungen eines Zauberkünstlers mit einer Nylonfadenspule, einem Taschenmesser und einer Art Plastiknadel ein Netz flickt. Der Fischer blickt nur kurz von seiner Arbeit auf, mustert seinen Beobachter und deutet ein Lächeln an.
Bist du gestolpert?
Mir hat gestern jemand eine verpasst, einfach so.
Und wer war das?
Das konnte ich nicht sehen. Es war während des Stromausfalls.
Ich hab dich fast nicht wiedererkannt mit deinem Bart.
Er mustert den Fischer ein zweites Mal und sucht nach irgendwelchen besonderen Merkmalen, an die er sich erinnernkönnte, aber er findet nichts. Er will ihn fragen, wer er ist, aber dann hält ihn sein Stolz zurück, jener Stolz, den Jasmim ihm vorgeworfen hat. Der Löwe auf seinem Thron. Er vermisst sie. Er vermisst das Leben, das er sich mit ihr vorgestellt hatte.
Entschuldigung, aber kennen wir uns?
Es ist Jeremias, der Besitzer der Poeta, das Boot, das sie unten vor seiner Wohnung repariert haben, als er dort eingezogen ist. Er setzt sich auf die Treppe und fragt, wie die Saison gelaufen ist. Schlecht, schlecht, sagt der Fischer. Jedes Jahr werden es weniger Fische. Jetzt ist Sardellenzeit, aber wir fangen kaum etwas. Es ist schlimm. Immerhin gibt es Corvinas. Bald ist die Schonzeit vorbei, und wir rechnen mit guten Fängen. Während er weiter an seinem Netz flickt, erzählt er, dass der Motor des Bootes im Juni endgültig den Geist aufgegeben hat und er einen neuen braucht, aber keine Ahnung hat, woher er das Geld nehmen soll. Ich sag dir eins, die Fischerei, wie wir sie betreiben, wird es hier noch zehn, fünfzehn Jahre geben. Länger nicht. Die industrielle Fischerei rottet die Fischbestände aus. Die fischen alles weit draußen ab, an die Küste gelangt kaum noch was. Das bringt nichts mehr ein, und die jungen Leute wollen sowieso nichts davon wissen. Von meinen Kindern und Neffen ist keiner Fischer. Kein Einziger. Im ganzen Ort gibt es vielleicht drei oder vier Söhne von Fischern, die selbst fischen. Wer Geld hat, geht studieren, macht einen Laden auf, wird Zahnarzt. Wer keins hat, arbeitet während der Saison im Tourismus oder hütet Ferienhäuser. Manche hängen auch nur rum und machen gar nichts. Sogar wir Fischer arbeiten als Maurer,
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