Flut
vorher fertig wurde, schon wieder ausgebessert werden. Der Asphalt, den sie verwenden, ist brüchig wie Eierschale. Diese Gangster machen ewig so weiter.
Bist du viel unterwegs?
Die ganze Zeit. Ich bin Ingenieur. Ich hab hier zwei Baustellen und dachte, ich seh mal nach dem Rechten, bei dem Regen. Die Leute wollen, dass ihr Haus im Dezember fertig ist, aber das wird wohl buchstäblich ins Wasser fallen.
Mitten in einer Kurve tauchen die Scheinwerfer eines alten Lastwagens vor ihnen auf. Der Pick-up bremst hart ab, gerät ins Schleudern und landet fast im Straßengraben. Der Fahrer flucht.
Was für ein Arschloch. So ein verdammtes Arschloch.
Guck mal, was ich an der Felsküste gefunden habe.
Er öffnet die Seitentasche seines Rucksacks und zeigt ihm die beiden Pfeilspitzen.
Was ist das?
Pfeilspitzen.
Der Fahrer wirft den Zigarillostummel aus dem Fenster und wendet für einen Moment den Blick von der Straße ab, um die dreieckigen Steine zu betrachten.
Sicher?
Ja, guck doch mal, die abgeschlagenen Kanten. Die Steine sind ganz glatt, sie wurden poliert.
Der Fahrer dreht sich nochmal zu ihm hin, aber diesmal sieht er sich nicht die Steine an, sondern mustert ihn von oben bis unten. Das Gespräch versiegt. Beim Aussteigen entschuldigt er sich dafür, den Sitz durchnässt zu haben, und schenkt dem Fahrer eine der Pfeilspitzen. Der bedankt sich und legt den Stein ins Handschuhfach.
An der Kreuzung in Araçatuba versucht er, eine weitere Mitfahrgelegenheit zu finden, aber es hält niemand an. Langsam bekommt er Hunger. Er geht in das Schnellrestaurant neben der Bushaltestelle und bestellt zwei Teigtaschen mit Fleisch und eine Cola. Die Frau an der Kasse dreht sich nach jemandem um, der offensichtlich nicht da ist, und sieht dann ihn an.
Hast du Geld?
Klar hab ich Geld.
Er bemerkt, dass sich unter ihm eine Pfütze bildet, und geht zum Essen nach draußen auf die überdachte Terrasse. Er wirft Beta eine Hälfte der zweiten Teigtasche zu, bezahlt und macht sich dann zu Fuß auf den Weg nach Garopaba. Jedes Mal, wenn ein Pick-up, Lastwagen oder ein altes Auto kommt, hebt er den Daumen, aber niemand hält an, so dass er nach kurzer Zeit aufgibt und sich nicht mehr umdreht, wenn er hinter sich Motorengeräusch hört. Vor Straßenschwellen und Fußgängerüberwegen drosseln die Autofahrer die Geschwindigkeit und mustern neugierig den bärtigen Mann, der mit seinem Hund durch den Regen läuft. Die Wahrscheinlichkeit, dass er manche von ihnen kennt, ist nicht gering, immerhin fahren sie alle in Richtung Garopaba, aber er würde niemalsjemanden durch die beschlagenen Scheiben eines fahrenden Autos erkennen. Sicherheitshalber erwidert er alle Blicke lächelnd und grüßt. Eine Frau lächelt zurück, hält aber nicht, eine andere sieht ihn mit penetranter Gleichgültigkeit an. Ein Mann wird kurz langsamer, überlegt es sich dann aber anders und gibt Gas. Ein oder zwei Kilometer weiter sieht er den Morro da Pedra Branca und entschließt sich, die Landstraße zu verlassen und über die Schotterpiste nach Encantada weiterzulaufen.
Er wird von der Dämmerung überrascht und übernachtet in der Garage eines noch nicht fertiggestellten Hauses in der Nähe der Straße. Er sieht die Scheinwerfer in der Ferne vorbeiziehen, hört aber nur das Wasser vom Dach tropfen und das verzweifelte Quaken der Frösche aus dem überfluteten Grundstück hinter dem Haus. Beta kaut auf einer Hautfalte einer ihrer Hinterpfoten und schnappt dabei mit den Zähnen. Er kriecht in den Schlafsack, aber zum ersten Mal seit Tagen ist er nicht müde genug, um zu schlafen. Er dreht sich auf den Rücken, verschränkt die Arme hinterm Kopf und versucht, im Dunkeln den hölzernen Dachgiebel zu erkennen. Die kalte Luft riecht angenehm nach frischem Mörtel, was ihn an die Garage erinnert, in der er als Kind gern die Zeit totschlug. Ein altes Lieblingslied nach dem anderen fällt ihm ein, und er ist erstaunt, sie noch alle auswendig zu können. Er singt erst ganz leise und wird dann immer lauter, bis er die Refrains aus vollem Hals brüllt. Es sind Lieder, die seine Eltern gehört haben, als er klein war. Er sieht seine Mutter im Garten der alten Wohnung in Ipanema, wie sie sonntagnachmittags neue Streifenhose, Sakko aus weißem Leinen, das noch vor einem Monat auf dem Feld blühte trällert, während die Schallplatte im Wohnzimmer läuft und sie rosafarbene Azaleen und weiße Spiersträucher beschneidet. Sein Vater stand eher auf Tango und Folklore aus Rio
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