Flut
Grande do Sul, daher kennt er einige Hits von Carlos Gardel und auch die meisten Gewinner-Titel des damaligen regionalen Liederwettbewerbs. Meine Zeit läuft ab, der Nachmittag vergeht jetzt schneller, meine Welt wird enger, und ich bin kleiner, als ich denke , singt er gegen das Geschrei der Frösche und Grillen an. Je lauter er singt, desto wärmer wird ihm. Nie wieder hat er so schöne Lieder gehört wie bei seinen Eltern. Wo sind diese Schallplatten jetzt? Bei der Scheidung wurden sie aufgeteilt. Sein Vater hat seine mit Sicherheit aufbewahrt. Niemand hat an die Platten gedacht. Es macht ihn wütend, wenn er sich vorstellt, dass sie verscherbelt wurden oder dass Dante sie jetzt hat. Sein Bruder hat als Jugendlicher nur alten Blues gehört, und vielleicht noch ein paar Underground- oder Indie-Bands, die noch nicht jeder kannte. Irgendwelche englischen Sänger, die jammerten, dass es immer nur auf ihre Köpfe regnete. Und Viviane war die einzige Person, die er kannte, die wirklich etwas von klassischer Musik verstand und ihn regelmäßig zu Konzerten der Philharmoniker von Porto Alegre schleppte. Sie wusste mehr über die Stücke und Komponisten, als in den Programmheften stand. Für ihn war es eine zwiespältige Angelegenheit. Manchmal kam er völlig begeistert aus dem Konzertsaal, hatte aber keine Lust, später nochmal etwas Ähnliches zu hören. Aus irgendeinem Grund konnte er die Musik, die er dort zu hören bekam, nicht behalten. Er konnte nicht beschreiben, wie ihm die Musik gefallen hatte, konnte Bach und Mozart nicht auseinanderhalten und sich höchstens vage an dieses berühmte Lied von Beethoven erinnern. Allerdings gab es eine Melodie, nur die eine, die ihm immer in Erinnerung blieb, von der Viviane behauptete, es sei ihre Lieblingsmelodie und die sie meine Nocturne von Chopin nannte. Dieses Lied bin ich, sagte sie. Er summt sie leise vor sich hin, sicherlich falsch, aber die Melodielinie erfüllt ihn mit all ihrer Mondschein-Gelassenheit, begleitet von den exakten Klaviertönen.
Am nächsten Tag wandert er auf einem steilen Pfad bis hoch auf den Gipfel der Pedra Branca. Hinter dem kleinen Turm, den man von der Straße aus sieht, erstreckt sich einelange, mit Flechten bedeckte Steinmauer. Auf dem Gipfel begegnet er einer sehr hübschen Frau in Leggings und Trainingsjacke, die hier oben Yogaübungen macht. Er setzt die Hündin ab, nachdem er sie auf dem letzten schwierigen Abschnitt getragen hat, und beobachtet die Frau, ohne genau zu verstehen, was sie da macht. Sie sitzt in einer Art Schneidersitz, ist ganz nass, und das kurze schwarze Haar klebt ihr am Kopf. Als seine Schritte sie schließlich aus ihrer meditativen Versenkung reißen, schauen sie sich eine Weile verwundert an. Er holt die letzten beiden Äpfel aus seinem Rucksack, reicht ihr einen und unterhält sich mit ihr. Sie sagt, sie mache einen Retreat in einem Meditationszentrum in der Nähe, und dass sie sich gerade an einem der größten Energietore von ganz Südamerika befänden. Das spürt man doch, oder? Die Ureinwohner dieser Gegend berichteten von einer Kutsche aus Licht, die aus der Lagune kam und einen Bogen am Himmel flog, bis sie hinter der Pedra Branca verschwand. Sie beschreibt die Flugbahn mit dem Zeigefinger. Trotz Regen haben sie einen weiten Blick über die Landschaft. Jenseits der Landstraße erzeugen Morast und überschwemmte Felder den Eindruck einer einzigen großen Lagune, und die Hügel und Dünen an der Küste setzen sich mit gespenstischen Konturen gegen den grauen, phosphoreszierenden Himmel ab. Er verabschiedet sich und läuft den Pfad hinunter in Richtung der Hügel von Encantada.
Die Straße führt an einem alten, von einem Wasserrad angetriebenen Sägewerk und einer von Ochsen angetriebenen Maniokmühle vorbei. Die Kinder kommen in ihren blau-weißen Uniformen aus der Schule, sie tragen Regenschirme, zeigen ungeniert mit dem Finger auf ihn und kichern und flüstern dabei. Kurze Zeit später endet der Pfad, und er begegnet tagelang niemandem mehr.
Am nächsten Morgen weckt ihn warmes Sonnenlicht. Vögel zwitschern und jagen in rasantem Flug umher. Die Farben pulsieren. Er zieht Jacke und T-Shirt aus und hält das Gesichtin die Sonne. Echsen mit riesigen Schwänzen liegen auf den warmen Steinen und blicken wie Märtyrer gen Himmel. Er breitet sämtliche Kleider und den Schlafsack auf den Steinen aus, nimmt das Stück Seife und sucht nach einem Bach, um sich zu waschen. Die Hündin begleitet ihn und versucht,
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