Flut
richtigen Rhythmus finden, um einerseits nicht zu sehr auszukühlen und andererseits lange genug durchzuhalten.
Panische Angst überfällt ihn, wenn er an Riffe und Tiere denkt oder sich vorstellt, er könne in die falsche Richtung schwimmen und sich immer mehr vom Strand entfernen, in eine erdrückende Weite, aus der es kein Zurück gibt.
In der übrigen Zeit jedoch konzentriert er sich auf seine Atmung und darauf, eine möglichst gerade Linie zu schwimmen. Irgendwann hat er das Gefühl, dass es ihm nicht viel anders ergeht als sonst auch, wenn er lange Strecken in 50-Meter-Becken oder mit Hunderten von anderen Athleten im Meer geschwommen ist. Die Situation ist ihm nicht unvertraut, so wie damals, als er bei einem Wettbewerb drei Kilometer mit Krämpfen im Oberschenkel zurückgelegt hat, oder beim Ironman in Florianópolis, als er während der Fahrradetappe fast wegen Unterkühlung aufgeben musste. Jeder Wettkampf hat seinen eigenen Rhythmus, er muss sich die Kräfte einteilen und auf seinen Schwimmstil achten, auf die Dynamik der Armzüge und die Frequenz der Beinschläge, vor allem aber muss er sich aufs Schwimmen konzentrieren, bis Körper und Geist eins sind, was die Voraussetzung dafür ist, dass er und das Wasser eins sind und er sich nicht mehr konzentrieren muss. Alles scheint Vorbereitung auf diesen Augenblick gewesen zu sein. Dies ist der Kampf, für den er sein ganzes Leben trainiert hat. In solchen Momenten kann die Vorstellungskraft eine Verbündete sein. Er stellt sich seine Rivalen vor, die neben ihm schwimmen und ihm auf den Fersen sind. Die besten Schwimmer der Welt. Der direkt vor ihm führt das Feld an, er sieht seinen Beinschlag, will ihn überholen. Er muss nur weiter in seinem Kielwasser schwimmen. Der Verstand ist leichtgläubig, und schon bald ist der eingebildete Gegner real, aus Fleisch und Blut, und empfindet dieselbe Kälte, dieselbe Erschöpfung. Er ist ein Gefährte. Er kann mit den Fingerspitzen fast seine Füße berühren. Sollte er sich unerwartet in nichts auflösen, erfindet er etwas anderes. Dass er von riesigen Haien und abscheulichen Seeungeheuern verfolgt wird. Oder dass er vom Blitz getroffen würde,sobald er stoppt oder auch nur das Tempo verringert. Dass er dem Tod entkommt. Dass eine stille, liebevolle Frau ihn am Strand erwartet, eine, die keiner der Frauen ähnelt, mit denen er zusammen war, ohne deswegen etwas Besonderes zu sein. Sie empfängt ihn ganz unaufgeregt, er legt seinen Kopf in ihren sandigen Schoß und bleibt dort liegen, solange er will, und sie sagt, dass sie einander brauchen, dass sie sich immer begehren und füreinander da sein werden. Und er weiß, dass sie die Wahrheit sagt. Sie streicht mit den Fingerspitzen über seine Schläfe und fragt, was er sich wünscht. Er stammelt, nicht viel, nur dass ihre Beine sich im Winter warm und im Sommer kühl anfühlen, dass sie ein kleines Mädchen bekommen, das sich die Knie aufschürft, wenn es ums Haus rennt, und dass man vom Haus aus eine Lagune sieht, die sich am Abend golden färbt. Vor allem aber, dass sie immer warm ist, wenn er friert. Sonst nichts. Dann ist sie an der Reihe. Sag mir, was du dir wünschst. Sie sagt es ihm, und er stimmt allem zu und fragt, was noch, was noch. Es ist eine lange Liste von Wünschen, und ihr zu versichern, dass er ihr jeden erfüllen will, bereitet ihm unermessliche Freude, egal was es ist. Er schenkt ihr alles, jeder Armzug ein Wunsch, und er fleht sie an, nicht aufzuhören, weil es ihm die Kraft gibt, die er jetzt braucht.
12.
Er wird geschüttelt.
Hey! Hey!
Langsam öffnet er die salzverklebten Augen. Das grelle Licht blendet ihn. Jemand hilft ihm auf.
Setz dich hin, Mann.
Er hält schützend die Hand vor die Augen und sieht einen muskulösen jungen Mann vor sich hocken. Er tropft vor Schweiß, ist barfuß und trägt nur Bermudashorts.
Alles klar mit dir?
Ein Hustenkrampf überfällt ihn, als würde er sich übergeben, nur dass nichts rauskommt. Als es vorbei ist, versucht er aufzustehen, aber die Beine geben nach, und er fällt zurück in den Sand. Er blickt nach rechts und nach links und sieht nichts als einen Streifen weißen Sand, der in der Sonne glüht. Hinter dem Mann ist das Meer hellblau, die Wellen sind sanft.
Was machst du hier? Was ist passiert?
Was ist das hier für ein Strand?
Siriú.
Siriú bei Garopaba?
Gibt es noch einen anderen?
Er lacht und muss husten.
Soll ich Hilfe rufen?
Nein, nein. Er nimmt sich zusammen. Hilf mir aufzustehen.
Der
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