Flut
auf einem alten, mit Schafsfellen ausgelegten Schaukelstuhl und sieht ihn an. Im Licht der Gaslampe an der Wand erahnt er die Größe der Höhle, Einzelheiten bleiben jedoch im Halbdunkel verborgen. Der Alte stützt beide Arme auf die Lehnen, sein grauer Bart reichtihm bis über die Brust. Vereinzelte weiße Haare hängen an beiden Seiten vom Kopf. Er hat ein breites Gesicht mit einer schmalen Nase und tiefen Augenhöhlen. Ein großer Mann, der mit den Jahren geschrumpft ist. Hose, Weste und Jackett aus ausgeblichener, durchlöcherter Wolle müssen einmal elegant gewesen sein. Die Intensität seiner kadaverhaften Gestalt wird durch die Anwesenheit einer Mulattin von höchstens zwanzig Jahren verstärkt, die schräg hinter ihm auf einem Hocker sitzt. Sie trägt einen beigen Strickmantel und eine mit Brillanten besetzte Tiara, die nur aus Plastik sein kann. Ihr Arm ruht sanft auf der Schulter des Alten. Beide fixieren den Eindringling mit demselben starren, leuchtenden Blick.
Guten Abend, sagt er und streift die Kapuze ab.
Der Alte neigt den Kopf wie ein neugieriger Hund und runzelt die Stirn. Seine buschigen Augenbrauen sind grau wie sein Bart, seine Haut erinnert an einen jahrhundertealten Lederkoffer.
Die junge Frau reißt plötzlich erschrocken die Augen auf. Sie flüstert dem Alten etwas ins Ohr, woraufhin er ihr die rechte Hand vors Gesichts hebt, um sie zum Schweigen zu bringen. Dann flüstert er ihr etwas zu. Sie steht auf, verschwindet mit ein paar Schritten in einer dunklen Ecke und spricht dort mit jemandem.
Die Decke der Höhle besteht aus einer riesigen Felsplatte und fällt in einem 45-Grad-Winkel von etwa drei Metern Höhe bis kurz über dem Boden ab. Es ist warm und trocken, eine der Ecken ist durch einen blauen Vorhang abgetrennt. Auf einem Baumstumpf liegt eine Granitkugel, so groß wie ein Handball. Im Licht eines Blitzes erkennt er zwei weitere Öffnungen im Fels, die eine führt rechts von ihm in den Urwald, hinter der anderen vermutet er das Tal und den Ozean. Das kurze Aufflackern reicht jedoch nicht aus, um eine dritte Person zu erkennen. In der Höhle herrscht ein sauberer, steiniger Duft. Man riecht nicht, dass sie bewohnt ist. Um seine Füße bildet sich eine Pfütze.
Tut mir leid, ich mach alles nass.
Der Alte beugt sich etwas vor und winkt ihn heran. Der Schaukelstuhl knarrt. Hinter dem Spalt hört er die Hündin knurren. Wahrscheinlich traut sie sich nicht hindurch.
Er geht drei Schritte auf den Alten zu. Hinter der Mulattin steht ein etwa dreizehn Jahre altes Mädchen auf. Sie hat helle Haut, dunkle, verfilzte Haare und überhaupt etwas Raubtierhaftes an sich. Das Kind belauert ihn mit primitivem Blick, während die Mulattin ihm stammelnd etwas zuraunt. Weiter hinten entdeckt er jetzt noch ein weiteres Mädchen. Sie ist blond und größer als die andere und liegt eingerollt auf einem Bett aus Isomatten und Kissen. Sie hat wohl bis eben geschlafen und reibt sich die Augen, während sie versucht zu begreifen, was vor sich geht. Die Mulattin setzt sich wieder hinter den Alten und legt ihren glatten Arm auf seine Schulter. Ihre Fingernägel sind gepflegt. Das kleinere Mädchen, das wie ein wildes Tier wirkt, zieht sich weiter ins Innere der Höhle zurück, in Richtung einer Küchennische mit Holzregalen voller Töpfe und Dosen und einer Kochplatte über einem Steinofen. Die violette und orangefarbene Glut flackert noch schwach. Das Mädchen setzt einen Wasserkessel auf die Platte.
Was willst du von mir?, fragt der Alte.
Es ist die Stimme seines Vaters.
Ich wollte dich kennenlernen.
Bist du gekommen, um mich zu holen?
Nein, ich wollte dich nur sehen. Ich bin dein Enkel.
Ach, wirklich? Der Alte lacht durch die Nase. Ist ja interessant.
Er legt die Taschenlampe neben die Granitkugel auf den Baumstumpf und streift sich den Rucksack von den Schultern. Der Alte zuckt zusammen.
Ich will nur etwas aus meinem Rucksack holen.
Er wühlt darin, bis er den kleinen Spiegel findet. Er ist völlig zersplittert, sein Spiegelbild ist ein vollkommen unkenntliches Mosaik. Während er sich mit der Hand über das Gesicht und den Bart fährt und vergeblich versucht, sich an sein eigenes Aussehen zu erinnern, lacht der Alte erneut, diesmal ausgelassener.
Ich hab schon an meinem Spiegelbild gezweifelt, sagt der Alte, aber dies ist das erste Mal, dass mein Spiegelbild an sich selbst zweifelt.
Er wird wieder ernst. Er tritt ein paar Mal mit dem nackten, von Furunkeln übersäten Fuß auf den harten
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