Flut
bleibt ihm im Hals stecken. Die Rufe würden ihn verraten. Während sein Körper das Adrenalin verarbeitet, weicht dem Fluchtinstinkt ein Gefühl der Lähmung. Er muss zurück, um Beta zu holen, aber er weiß nicht mehr, wohin. Das Rauschen der Wellen hallt durchs Tal. Er tastet nach seiner Hüfte, dort, wo das Messer ihn erwischt hat. Die Wunde scheint nicht tief zu sein, aber er hat Schmerzen. Er läuft in irgendeine Richtung weiter, nur, um nicht stehen zu bleiben. Während er überlegt, was er tun soll, rutscht er einen kleinen Hang hinunter bis in den Bach. Anhand der Strömung kann er den ungefähren Flusslauf zum Meer und die Lage des Tals bestimmen. Das Paar im Zelt hat eine Gaslampe. Wahrscheinlich habensie auch ein Messer, eine zweite Taschenlampe und vielleicht auch ein Handy. Hastig läuft er den Hang hinauf. Immer wieder glaubt er, die Hündin hätte ihn eingeholt, und erst jetzt, als er die ersten Bäume auf dem Kamm des Hügels erreicht, wird ihre Abwesenheit real. Er nimmt allen Mut zusammen, hält die Hände an den Mund und ruft nach ihr.
Beta!
Die Rufe verhallen im pechschwarzen Tal.
Er sucht nach dem Zelt zwischen den Bäumen. Das Baby hat aufgehört zu schreien, oder aber er ist ganz woanders, als er denkt. Er ruft ihre Namen, vergeblich. Der Wald wird lichter, und er läuft schneller, in der Hoffnung, am offenen Himmel Orientierungspunkte zu finden.
Ein Blitz erleuchtet die Felsen, er sieht, wie er ins Leere tritt, und dann das tosende Meer unter sich, ein einziges, unaufhörliches Chaos. Im nächsten Moment herrscht wieder Finsternis, er beginnt zu fallen, und erst mitten im Fall wird ihm bewusst, was gerade passiert. Er ist dem Blitz dankbar, fast wäre er wie ein Blinder gestorben. Vielleicht ist der Tod so eitel, denkt er, dass er selbst die Blinden im letzten Moment sehen lässt, damit sie sich seiner bewusst werden. Während er fällt, bleibt ihm der Anblick dieses Strudels aus Wogen und Schaum, der ihn verschlingen wird, als überdeutliches Bild vor Augen. Das Meer, das er so liebt, zeigt sich von seiner intimen, zerstörerischen Seite, so wie es nur wenige Menschen kennen. Kurz vor dem Aufprall schließt er reflexartig die Augen.
Unter Wasser ist nichts von der bedrohlichen Wildheit an der Oberfläche zu spüren. Vom Wasser gebremst gleitet er bis auf den felsigen Grund und lässt sich im tauben Gemurmel des eisigen Meeres von der sanften Strömung forttragen. Sein älterer Bruder hat ihm beigebracht, unter großen Wellen durchzutauchen, um hinter die Brandung zu kommen. Egal, wie groß die Welle ist, du musst ihr so schnell wie möglich flach auf dem Grund entgegentauchen. Wenn sie dann bricht,zieht sie dich unter sich durch, und du tauchst auf der anderen Seite wieder auf. Wenn du vor ihr flüchtest, kracht sie direkt über dir zusammen, wenn du versuchst, sie an der Oberfläche zu durchschwimmen, landest du in der Wäscheschleuder und brichst dir entweder das Genick oder wirst von Korallen aufgeschlitzt. Sein Bruder war schon als Kind ein guter Surfer gewesen, er selbst mochte keine Surfbretter und war lieber geschwommen. Instinktiv versucht er herauszufinden, in welche Richtung sich das Wasser bewegt. Er schwimmt gegen die Wellen an, schnappt, als er an die Oberfläche kommt, nach Luft und taucht dann wieder ab, um nicht gegen die Felsen geworfen zu werden.
Dort unten herrscht Stille. Das Wasser beschützt ihn und verlangsamt die Zeit.
An der Oberfläche ist die Hölle los. Schäumende Wogen brechen aus allen Richtungen über seinem Kopf zusammen, das Salzwasser dringt ihm in die Kehle. Atemlos versucht er, Turnschuhe und Jacke loszuwerden, die ihn beim Schwimmen behindern. Weder Sterne noch Mond leuchten am Himmel. Alles, was er sieht, ist das Auf und Ab der Wellen. Die Naturgewalten, die hier aufeinanderprallen, sind ihm vertraut, aber es hilft ihm nicht weiter. Er ist ein ziellos umhertreibender Körper.
Er muss sich für eine Richtung entscheiden und dann parallel zur Küste schwimmen, bis er den nächsten Strand erreicht. Seine Augen brennen vom Salz. Die Arme scheinen gegen die Kraft der Wellen so gut wie nichts auszurichten, aber er weiß, dass das täuscht. Wenn er mit Hilfe der richtigen Strömung in die richtige Richtung schwimmt, wird er irgendwann von der Felsküste wegkommen und an einen Strand gelangen, selbst wenn es Stunden dauert. Zum ersten Mal hat er Zeit, die Kälte zu spüren, die ihm jetzt in immer tiefere Schichten seines Körpers fährt. Er muss den
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