Flut
junge Mann fasst ihn unter dem Arm und richtet ihn auf.
Hast du hier irgendwo einen Hund gesehen?
Nein. Was ist denn passiert? Bist du betrunken schwimmen gegangen?
Ich bin ins Meer gefallen.
Du siehst aus wie der Schiffbrüchige in diesem einen Film, Mann.
Es hat aufgehört zu regnen.
Geht bestimmt gleich wieder los. Es regnet jetzt seit fast einem Monat.
Welcher Tag ist heute?
Mittwoch.
Der Wievielte?
Der Fünfzehnte, glaube ich.
Und welcher Monat?
Oktober.
Der junge Mann stemmt die Arme in die Hüften, sieht sich um, hält den Kopf schief und mustert ihn aus zusammengekniffenen Augen.
Du brauchst Hilfe, Mann. Bleib hier, und ich geh jemanden holen.
Er schüttelt den Kopf. Seine Augen haben sich an die Helligkeit gewöhnt, linker Hand erkennt er die Häuser auf dem Morro do Siriú und rechts in der Ferne Garopaba.
Seine Zunge ist geschwollen, alles ist salzig und mit dickflüssiger Spucke verklebt. Er spürt einen stechenden Schmerz in der Hüfte und stöhnt auf. Er hebt das nasse T-Shirt und sieht einen ausgeblichenen Schnitt in der Mitte eines rötlichen Ovals.
Hast du dich verletzt? Erinnerst du dich, was passiert ist?
So ungefähr.
Hat dich jemand angegriffen?
Ist schon gut.
Seine Arme sind abgeschürft, die Hose an den Waden zerrissen. Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht, durch die Haare und den Bart.
Im Gesicht hast du nichts, sagt der andere.
Und was machst du hier?
Ich jogge. Ich trainiere für die Rettungsschwimmerprüfung.
Wann ist die?
Im Dezember. Ich laufe immer barfuß am Strand, um mich daran zu gewöhnen.
Er hält die Hand an die Wunde und versucht, sich langsam hinzusetzen, fällt aber laut schnaubend mit dem Hintern in den Sand. Er versucht zu schlucken, aber sein Mund ist trocken.
Du hast nicht zufällig Wasser dabei, oder?
Nein.
Alles klar. Viel Spaß beim Trainieren.
Der Mann sieht ihn an, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
Alles in Ordnung, Meister, du kannst ruhig weiterlaufen.
Sicher?
Ja, klar.
Bleib einfach hier sitzen und ich helf dir, wenn ich wiederkomme. Oder ich sag jemandem in Garopaba Bescheid. Gibt es irgendwen, der dich abholen könnte?
Ist nicht nötig.
Du solltest weniger trinken. Das kann dich dein Leben kosten.
Der junge Mann läuft ein paar Schritte rückwärts, dreht sich dann um und läuft durch den Sand in Richtung Siriú.
Er kreuzt die Beine und spürt, wie ihm die Sonne auf den Kopf scheint. Er weiß nicht mehr, wie er den Strand erreicht hat, kann sich aber lebhaft an einzelne Momente der letzten Nacht erinnern. Es kommt ihm vor wie ein Traum, wie die Fata Morgana, die Jasmim und er gesehen haben. Dann fällt ihm Beta ein. Er muss zurück, um sie zu suchen, aber dazu wird er in den nächsten Tagen nicht die Kraft haben, und im Grunde besteht keine Hoffnung, dass sie noch lebt oder er sie finden könnte. Er wird sie trotzdem suchen. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, muss es etwa neun Uhr morgenssein. Man kann den Sand in den Dünen hinter ihm geradezu trocknen hören. Es ist Flut. Eine seiner weißen Baumwollsocken klebt noch am Fuß. Er muss sich mit beiden Händen abstützen, um aufstehen zu können. Mit langsamen Schritten läuft er los in Richtung Garopaba. Sämtliche Gelenke schmerzen. Als er die Hälfte der Strecke zurückgelegt hat, hört er hinter sich jemanden rufen. Es ist der Mann, der ihn geweckt hat und der jetzt zurückgelaufen kommt.
Ich hab dir was zu trinken besorgt.
Er nimmt die kleine Wasserflasche entgegen, ohne stehen zu bleiben. Vergeblich versucht er, den Plastikdeckel aufzudrehen.
Gib mal her.
Der andere nimmt die Flasche, öffnet sie und gibt sie ihm zurück. Er trinkt in kleinen, schnellen Schlucken. Die beiden gehen nebeneinander her.
Danke.
Geht’s? Schaffst du das, Schiffbrüchiger?
Ja. Vor allem jetzt mit deinem Wasser.
Soll ich dir helfen?
Danke, Kollege, lauf ruhig weiter. Es geht schon. Ich darf bloß nicht stehen bleiben.
Leg deinen Arm hier drauf.
Der junge Mann bietet ihm seine Schulter als Stütze an und legt ihm den anderen Arm um die Hüfte. So marschieren sie langsam zusammen weiter.
Du solltest als Erstes zum Arzt gehen, du siehst echt nicht gut aus.
Mach ich.
Es dauert länger als eine halbe Stunde, bis sie da sind. Als sie die Strandpromenade von Garopaba erreichen, ist die Sonne hinter dicken Wolken verschwunden.
Okay, Meister, von hier aus kann ich alleine weiter.
Willst du nicht zum Arzt?
Ich will erst kurz nach Hause. Ich wohn da vorn, bei denFelsen. Siehst du?
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