Flut
Stange mit. Aber wenn es dir zu viel ist, musst du es sagen. Ich hab im Moment leider sonst niemanden, den ich bitten könnte.
Irgendetwas an der Konstellation dieses Augenblicks wühlt ihn auf. Die Hündin scheint zum ersten Mal seit dem Tod seines Vaters zufrieden und ausgeglichen zu sein. Dália vertraut ihm ihren Sohn an, den er noch nicht mal kennengelernt hat.Vielleicht geht ihm das alles zu schnell, wie sie sich in seinem Leben einnistet, vielleicht will er einfach allein sein, und seine momentane Zuneigung ist nur vorübergehend, vielleicht erträgt er sie eigentlich gar nicht, er weiß es nicht genau, jedenfalls hat er plötzlich das Gefühl, dass das intime Verhältnis, das sich zwischen ihnen entwickelt hat, in diesem Moment anfängt, zu Ende zu gehen. Er hofft, dass er sich irrt. Und gleichzeitig liegt eine tröstliche Stimmigkeit darin, wie jeder von ihnen das Leben des anderen bereits auf unwiderrufliche Art beeinflusst hat, etwas Gutes, das bleiben wird, selbst wenn es einen Morgen wie diesen nicht mehr geben sollte.
Ich hol ihn ab. Kein Problem.
Nur so lange, bis ich jemand anderen gefunden habe. Ich wollte dich eigentlich nicht damit behelligen.
Ich kann ihn abholen, solange es nötig ist. Mach dir keine Sorgen. Aber vielleicht sollte ich ihn vorher kennenlernen.
Wir verabreden uns morgen, ich ruf dich an. Wie willst du ihn denn in der Schule erkennen?
Da findet sich immer eine Möglichkeit. Lass ihn mich erst mal kennenlernen.
Er hat Segelohren.
Das klappt schon.
Okay.
Ich kann mir ja einen Kindersitz aufs Fahrrad montieren.
Brauchst du gar nicht. Er sitzt auf der Stange. Er ist noch nie …
Sie bricht den Satz ab und sagt nichts mehr. Die Lendário stößt einen langen, markerschütternden Pfiff aus, dann noch einen. Touristen eilen an seinem Fenster vorbei, Paare und Familien, die an einer der letzten Fahrten des Schoners an einem der letzten warmen Wochenenden teilnehmen wollen. Ehrerbietig steuern sie auf das Schiff zu. Er kniet sich hin und küsst sie. Der bittere Geschmack von Milchkaffee mischt sich in ihre Spucke. Sie schicken den Hund weg, schließen die Fensterläden, ziehen sich aus und landen sofort im Schlafzimmer. Das Brummen des Dieselmotors vibriert in den Wänden, der Pfiff ertönt ein weiteres Mal, und dann lichtet der Schoner die Anker. Als sich eine Wolke vor die Sonne schiebt, wird es langsam dunkel im Zimmer. Er legt sich auf sie, ihre Körper kleben aneinander. Dália kommt, ohne einen Ton von sich zu geben, aber ihr läuft eine Träne übers Gesicht. Sie dreht sich zur Seite und schnieft.
Scheiße.
Alles in Ordnung?
Nein. Nichts ist in Ordnung. Wenn ich wie eine Nutte gucke, ist alles in Ordnung.
Die Wolke zieht weiter. Sie dreht sich wieder um und legt ihm die Hand auf die Brust.
Vergiss, was ich gesagt habe.
Von der Escola Municipal do Pinguirito, wo Pablo die erste Klasse besucht, bis zu Dálias Wohnung sind es zirka zehn Minuten mit dem Fahrrad, aber heute machen sie einen Umweg an der Eisdiele Gelomel vorbei, bevor er den Jungen an Dálias Mutter übergibt, der infolge ihrer Diabetes vor ein paar Monaten der Fuß amputiert wurde. Sie lädt ihn jedes Mal auf einen Saft und ein Stück Kuchen ein. Manchmal nimmt er an. Dálias Mutter mag ihn. Sie behauptet, eine Art Wahrsagerin zu sein und schon von ihm geträumt zu haben, bevor sie sich persönlich begegnet sind, vielleicht beeinflusst von dem, was Dália über ihn erzählt hat. 3 Bei jedem Besuch fallen ihr ein paar neue Details oder auch Deutungen dazu ein. Er hatihr schon gesagt, dass er an so etwas nicht glaubt, aber das scheint sie nicht zu interessieren. Manchmal glaubt er, dass sie die Träume spontan erfindet.
Er ist noch mit dem Fahrrad auf der Hauptstraße unterwegs zur Eisdiele, als er an einem Eckgrundstück gegenüber vom Supermarkt einen Schrei und einen dumpfen Schlag hört. Zwei Männer bearbeiten die Wand eines Kiosks mit Tritten und einem Vorschlaghammer. Der Laden war ihm bisher nicht aufgefallen, aber er ist sicher, dass er gestern noch heile war. Der Mann mit dem Hammer, ein dicker, glatzköpfiger Mulatte im gelben Hemd, der mit seinen kurzen Armen und praktisch nicht vorhandenen Schultern den Körperbau einer Birne hat, nickt dem Jungen auf dem Fahrradsitz zu und brüllt:
He, Pablito. Wer wird dieses Jahr Meister?
Der Junge hebt die Faust und ruft Grêmio!
Kurz darauf erreichen sie die Eisdiele. Er lehnt das Fahrrad an die Glastür und öffnet den Sicherheitsgurt.
Wer war der
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