Flut
ist leer, der kupferfarbene Sand ist lauwarm und gezeichnet von den letzten Touristenschüben. Zados Bar ist wie immer geöffnet, aber es sind keine Gäste da, nicht mal ein Surfer oder ein Kiffer, der von einem der Holztische aus die Wellen betrachtet. Ein Jugendlicher sitzt hinterm Tresen und sieht sich auf dem Fernseher an der Wand ein europäisches Fußballspiel an. Später wird er sagen, er habe nichts gesehen, und dabei immer noch auf den Bildschirm starren. Der Himmel ist bewölkt, in einem der Häuser auf der anderen Seite der Dünen versucht jemand, mit einer Bohrmaschine ein Loch in einen ziemlich harten Gegenstand, vielleicht eine Kachel, zu bohren. Nebel liegt über dem Sand, es riecht nach verwesenden Meerestieren. Er lehnt Fahrrad und Rucksack gegen die Wand der Bar und läuft runter ans Wasser. Das Wasser ist so kalt, dass es wehtut, aber er geht trotzdem rein. Nach ein paar Zügen hat er die Sandbank erreicht, läuft durch das knietiefe Wasser bis ans andere Ende und krault dann weiter in Richtung Brandung. Die Lunge pumpt verzweifelt jedes Gramm Luft aus den Zellen, seine Haut brennt, in den Schläfen pocht das Blut. Als ihm nach einer Weile immer noch nicht wärmer geworden ist, nimmt er die erstbeste Welle zurück zur Sandbank und steigt aus dem Wasser. Nach dem eisigen Wasserwirkt die warme Luft belebend, und er beschließt, ein Stück zu laufen. Der Nebel zerteilt sich vor ihm und ist erst wieder da, als er vor dem Morro do Índio steht und sich umsieht. Er läuft noch ein Stück weiter, kehrt um, setzt sich in den Sand und schaut aufs Meer. Dann legt er sich hin und schließt die Augen.
Als er etwas später wieder hochkommt, ist er nicht sicher, ob er geschlafen hat. Irgendwas ist anders als vorher, aber er kann nicht sagen, was. Es dämmert, der Himmel hat sich noch mehr zugezogen und ist vollkommen farblos, der Nebel hat sich aufgelöst. Dann läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken. In der Ferne zieht ein beunruhigendes Gewitter auf. Eine dunkle Wolkenbank erstreckt sich wie ein Gebirge fast über den ganzen Horizont und bewegt sich in Richtung Strand. Aber etwas stimmt nicht. Die Wolken kommen näher und gleichzeitig doch nicht. Sie verändern ihre Form, ohne dass er den Übergang von einem Stadium zum nächsten verfolgen kann. Je länger er hinsieht, desto mehr bezweifelt er, dass es Gewitterwolken sind. Er sieht weder Blitze, noch donnert es. Die Formen sind einerseits zum Greifen nah und verschwimmen gleichzeitig in der Ferne. Das Ganze hat etwas von einem Hologramm. Wenn sie so nah sind, wie es scheint, wird er wahrscheinlich jeden Moment von einem Wirbelsturm verschlungen. Wenn sie so weit entfernt sind, müssen sie gigantisch sein, wie aus einer anderen Welt. Was da auf ihn zukommt, könnte ein Seebeben sein. Die Folge eines apokalyptischen Meteoriten im Herzen des Atlantiks. Das Ende der Welt naht lautlos heran. Er ist wie hypnotisiert. Bevor es Abend wird, löst sich das Bild auf und verschwindet unauffällig.
Nach und nach erscheinen immer mehr Leute zu seinen nachmittäglichen Schwimmkursen. Einige von ihnen sind Surfer, die technisch meist schwach, aber körperlich in Topform sind, und mit denen man gut arbeiten kann, weil siewas lernen wollen. Zum Beispiel Jander, ein kleiner, stämmiger Glatzkopf, vierzig Jahre alt und immer braungebrannt, Betreiber eines Pet Shops mit angeschlossenem Hundehotel und tierärztlicher Praxis. Jander surft, schwimmt, läuft und fährt Fahrrad, alles regelmäßig, aber ohne jeden Plan. Seine unglaubliche Ausdauer verschenkt er an einen schlampigen Stil, und in den ersten Stunden geht es darum, dass er versuchen soll, seinen rötlichen Körper weniger zu drehen und die Arm- und Beinbewegungen besser aufeinander abzustimmen. Dann ist da ein Typ mit Rastalocken namens Amós, der ständig breit ist und sich weigert, seinen Anweisungen zu folgen. Er stoppt, hört zu, pflichtet ihm bei und macht genauso weiter wie zuvor. Seine verfilzten Zöpfe passen nicht unter die Badekappe, aber Panela hat gesagt, er soll ruhig ein Auge zudrücken. Er vergeudet alle Energie während der ersten zwei, drei Bahnen und schleppt sich dann durch das restliche Training, hat keine Puste mehr, schluckt Wasser, schwimmt immer langsamer und leidet immer offensichtlicher. In der dritten Woche melden sich Rayanne und Tayanne an, zwei introvertierte jugendliche Zwillingsschwestern, die stets zusammen kommen, ihre sehr weißen und fast identischen Körper in identische
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