Flut
gesagt. Wie kann ich dann behaupten, dass etwas von mir wiedergeboren wird? Das ergibt keinen Sinn. Nur die Dinge vermischen sich und verbinden sich neu.
So, so, ein materialistischer Schwimmer. Aber dann finde ich es komisch, dass du dir solche Sorgen machst, wie dein toter Vater darüber gedacht hätte, was du mit seinem Hund anstellst. Wenn tot tot ist, was interessiert es dich dann? Warum nicht Egoist sein und es sich so gut wie möglich ergehen lassen, bis man irgendwann halbwegs verzweifelt stirbt?
Weil es mich interessiert. Nur einen Wurm würde es nicht interessieren. Der Tod ist keine Entschuldigung dafür, ein Wurm zu sein.
Ein materialistisch-existenzialistischer Schwimmer also.
Machst du dich über mich lustig?
Nein. Ich bin noch betrunken. Und du auch. Sprich weiter.
Und ich weiß auch nicht, ob ich deiner Theorie zustimme, nach der ich herausfinden könnte, welches die bessere Entscheidung ist, je nachdem, wie viel Leid sie verursacht oder eben nicht verursacht. Das Ausmaß des Leides ist nicht immer ausschlaggebend dafür, ob etwas gut oder schlecht ist. Leiden ist schlecht, aber es gehört dazu.
Dann versuch mal, anhand dieser Grundsätze die richtige Entscheidung zu treffen. Viel Glück.
Bonobo steht auf und geht zum Tresen, um die Nachrichten auf seinem Handy zu lesen.
Altair hat mir eine SMS geschickt. Er ist aus deiner Wohnung raus und reißt weiter seinen Kiosk ab.
Mist, mir ist gerade eingefallen, dass ich mein Fahrrad da stehengelassen hab.
Ich muss noch Sachen fürs Frühstück einkaufen. Ich kann dich mitnehmen.
Nee, ich komm schon nach Hause.
Ich bestehe darauf. Damit verdiene ich mir meine tägliche Portion Karma. Was das betrifft, hab ich große Schulden, Schwimmer. Überziehungskredit, verschiedene Kreditkarten, Geld in der Unterhose und das alles. Auf diverse Leben verteilt. Abgesehen davon ist die Strecke um diese Uhrzeit wunderschön.
Vor dem verlängerten Wochenende zum 1. Mai, dem Tag der Arbeit, fällt ihm die Ausgabe einer Zeitung aus Tubarão in die Hände, auf der Titelseite die Nachricht, man habe an der BR-101, etwas nördlich von Paulo Lopes, wenige Kilometer oberhalb der Straße nach Garopaba, die Leiche eines sechzehnjährigen Mädchens aus Praia da Pinheira im Gebüsch gefunden. Sie hatte keine Augen und keine Lippen mehr und war ganz offensichtlich stranguliert worden, was auch diemutmaßliche Todesursache war. Der Sachverständige nahm an, dass die Verstümmelungen im Gesicht nach Eintritt des Todes vorgenommen wurden, die entfernten Körperteile wurden nicht gefunden. Sie trug kein Oberteil, aber bisher war nicht bestätigt worden, ob es sich um ein Sexualverbrechen handelte. Außerdem wiesen diverse Schürfwunden darauf hin, dass sie an einem anderen Ort getötet worden war, wahrscheinlich in einem Waldgebiet mit dichter Vegetation und Steinen, und dann von einer oder mehreren Personen, die nicht in der Lage waren oder sich nicht die Mühe machen wollten, sie zu tragen, dorthin transportiert beziehungsweise geschleppt worden war. Der Artikel war zwei Tage nach dem Fund der Leiche erschienen, und auf dem Foto sah man das Opfer unter einer Decke oder einem hellen Tuch liegen, so dass nur die Hände mit den gekrümmten Fingern hervorguckten, die Arme seitlich neben dem Kopf angewinkelt, wie ein Baby in der Wiege. Als er das Foto betrachtet, stellt er sich für einen kurzen Moment das Gesicht des Mädchens unter der Decke vor, wie bei einem Flashback in einem Horrorfilm, und dieses undeutliche Bild wird ihn noch mehrere Tage verfolgen. Die Erklärung, dass Augen und Lippen von einem Tier gefressen wurden, hat man ausgeschlossen, weil die Verletzungen von präzisen, fast klinischen Einschnitten stammten. Sie hatte ihren Eltern erzählt, dass sie mit Freunden an einem Wasserfall in der Gegend zelten wollte, und diese Freunde waren auch tatsächlich zelten gewesen, berichteten aber, dass sie nicht zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort erschienen war und sie deshalb ohne sie gefahren waren. Die Polizei ging von einem Racheakt aus, betonte aber, dass man noch die Untersuchungen abwarten müsse, so lange sei alles offen. So weit die Informationen aus dem Artikel. Die Zeitung war eine Woche alt und lag auf einer Bank in der Umkleidekabine des Fitnessstudios, als hätte sie jemand in seinem Rucksack vergessen und Tage später dorthin gelegt, ohne sich die Mühe zu machen, sie in den Mülleimer zu werfen, und es kommtihm komisch vor, dass niemand im Fitnessstudio,
Weitere Kostenlose Bücher