Flut
Zahnarzt. Sie haben beide in Porto Alegre studiert und sind seit letztem Jahr hier, so wie auch viele andere Zahnärzte, Apotheker, Physiotherapeuten, Ärzte, Anwälte, Ingenieure und Kleinunternehmer, die aus den großen Städten herkommen, weil sie davon träumen, als Freiberufler ein einfaches Leben am Meer zu führen, viel zu surfen und in der Sonne zu liegen, weniger zu verdienen, aber dafür glücklich zu sein, einen Garten zu haben und ihre Belgischen Schäferhunde, ihre Labradore und ihre zukünftigen Sprösslinge am Strand frei laufen zu lassen. Nachdem sie hergezogen waren, fing sie an zu laufen, aber jetzt überlegt sie, wieder aufzuhören, weil sie starke chronische Schmerzen im Schienbein hat. Sie zeigt ihm, wo. Als er die Stelle befühlt und kurz zudrückt, kreischt sie auf und zieht das Bein weg. Er vermutet, dass sie eine Knochenhautentzündung hat, und bietet an, ihr ein paar Übungen im Fitnessstudio zu zeigen. Außerdem soll sie das Bein mit Eis kühlen und mindestens zwei Wochen mit dem Laufen aussetzen. Sie bedankt sich und steigt in ihren nagelneuen schwarzen Kleinwagen, der am Straßenrand steht und seine Besitzerin mit einem schrillen Alarmanlagenton begrüßt. Zwei Tage später spricht ihn im Fitnessstudio eine Frau an, aber er erkennt sie erst nach etwa fünf Minuten wieder, als sie die Schmerzen im Schienbein erwähnt. Er zeigt ihr verschiedene Übungen zur Dehnung und Stärkung der Schienbeinmuskeln. Da sie normalerweise ein anderes Fitnessstudio in ihrer Nähe besucht, vereinbaren sie, sich zu treffen, und tauschen Telefonnummern. Letztendlich verabreden sie, sich ab der kommenden Woche drei Mal wöchentlich frühmorgens vor dem Restaurant Embarcação zu treffen. Sie hat eine Freundin, die ebenfalls läuft und gern einen Trainer dabeihätte. Er schlägt vor, eine Laufgruppe zu gründen.
An manchen Morgen weiß er nicht mehr, wie er in Garopaba gelandet ist und was er dort soll, und er hat das Gefühl, dass es im Grunde gar nichts gibt, was er um jedenPreis herausfinden müsste. So wie an diesem nebligen Tag, als er sich vors Fenster setzt, die Hündin an seiner Seite, und die Zeit damit totschlägt, zuzusehen, wie der stürmische Nordostwind das Meer aufwühlt. Das Wasser schillert grün und blau und hat keine Reflexe, es sieht aus wie durch einen Polarisationsfilter betrachtet. Die Wellen brechen sich auf den Felsen, die weiße Gischt spritzt auf seine Füße und verbreitet den Duft von Salz und Schwefel. Dann dreht der Wind völlig unerwartet. Mit seiner unsichtbaren Kraft gestaltet er innerhalb kürzester Zeit die gesamte Umgebung um. Von Süden her zieht er die gekräuselte Wasseroberfläche straff wie ein zerknittertes Laken, das übers Bett gespannt wird. Wie aus dem Nichts bricht jetzt die Sonne durch die Wolken. Eine Gruppe von Jugendlichen taucht vor den Felsen auf. Die Jungs, es sind vier, in Shorts und ohne Hemd, springen vom Steg und landen fluchend im Wasser. Die beiden Mädchen sind zwölf oder dreizehn und wandern lässig über die Felsen, eine im Bikini, die andere im weißen Kleid, mit Stupsnase und hoher Stirn. Sie holen Lollis aus ihrer Tasche und setzen sich auf die Steine. Das Mädchen im weißen Kleid dreht sich zu ihm um und sieht ihn mit aufrichtigem Desinteresse an. Ihrer frühreifen Sexualität steht eine unermessliche Gelangweiltheit gegenüber, die sie davon abhält, Erstere zur Geltung zu bringen. Die Jungen bespritzen sie mit Wasser und versuchen, sie hineinzuziehen. Sie erdulden das wie eine kurze Unterbrechung und widmen sich gleich darauf wieder ihren Lollis und ihrer einsilbigen Unterhaltung. Das Mädchen im Kleid steht auf und klettert auf einen größeren, weiter unten gelegenen Stein. Die sanften Wellen laufen ihr über die Füße. Sie betrachtet das Meer und die Jungs, die im Wasser spielen, als wäre es ein notwendiges Übel, sich ihnen anzuschließen, eine Verpflichtung, die ihr ihre Weiblichkeit auferlegt. Sie zieht ihr Kleid aus, faltet es zusammen und legt es sorgfältig auf die Steine. Dann dreht sie sich nach ihrer Freundin um. Gemeinsam fügen sie sich in ihr Schicksal, gleiten in ihrenschwarzen Bikinis ins Wasser und werden augenblicklich von den Jungs umringt, die ihnen Wasser ins Gesicht spritzen und sie erbarmungslos untertauchen. Die Jungs lachen schallend, die Mädchen sträuben sich erst, lachen dann aber auch, dasselbe Lachen, das Erwachsene lachen, wenn sie sich wie Kinder fühlen. Von seinem Platz aus sieht er, wie sich die Sonne
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