Flut
Schonzeit der Meeräschen, weshalb die Fischer ihm verboten haben, im Meer zu schwimmen, also geht er vor dem Mittagessen ins Schwimmbad oder joggt am Strand und auf den Feldwegen, vorbei an kleinen Höfen im Schatten von Feigenbäumen, an frei herumlaufenden Schweinen und flachen, von Sandboards aufgespießten Dünen. Eines kalten Morgens sieht er, wie die Fischer an derkleinen Praia da Preguiça ihren ersten großen Fang machen. Delfine begleiten die Schwärme, zeigen ihre Rückenflossen, springen vor Freude in die Luft und helfen so dem Boot, die Beute einzukreisen. An die zwanzig Fischer ziehen umringt von aufgeregten Möwen die Netze ein, in denen es von fetten verängstigten Fischen mit silbrigen Schuppen und wie zerlaufenes Blei glänzenden Bäuchen wimmelt, die dann am Strand zu einem trägen Berg gestapelt werden, wo ihre Kiemen vergeblich gegen den Tod anarbeiten. Auf dem Rücken eines jungen Fischers sind die Worte Joseane, Tainá und Marina, Die Sterne Meines Lebens eintätowiert. Ein weißbärtiger Betrunkener zieht mit aufgerissenen Augen wie in Trance am Netz. Ein älterer Fischer überwacht das Treiben mit einer Geringschätzung, die wohl seiner jahrzehntelangen Erfahrung auf dem Meer geschuldet ist. Alle widmen sich ihrer Arbeit mit großer Ernsthaftigkeit und beschränken die Kommunikation auf kurze praktische Zwischenrufe. Hunde und Katzen schleichen um die Netze herum, die Schlaueren unter ihnen streiten sich um die Köpfe der kleineren Fische, die von den Menschen aussortiert wurden. Die Hunde der Einheimischen sind Beta feindlich gesinnt, und mittlerweile hat sie gelernt, sich von ihnen fernzuhalten. Er hilft den Fischern, das Netz einzuholen, und bekommt zum Dank zwei frische Fische, die er mit dem Messer seines Vaters auf den Felsen abschuppt und ausnimmt. Er legt zwei Stücke beiseite, um sie später mit Öl und Zitrone in der Pfanne zu braten, und friert den Rest ein. Später am Nachmittag, nachdem er Pablo von der Schule abgeholt und zu Dálias Mutter gebracht hat, sieht er vier kleine Motorboote vor den Fischerschuppen liegen, daneben die Reste von fast zehn Tonnen Fisch, der in weißen Plastikschalen in zwei Kühlwagen verfrachtet wurde. Die Anwohner tragen ihre Ausbeute mit den Fingern in den Kiemen oder in Plastiktüten nach Hause. Trotz des erfolgreichen Fangs sind die Fischer pessimistisch und rechnen mit der schlechtesten Saison seit Jahren. Einige machen die Temperaturen verantwortlich, andere die hohe Niederschlagsmenge in der Lagoa dos Patos. Die Straßenbeleuchtung schaltet sich ein, und hinter den Bergen im Westen, wo die Sonne untergeht, erglüht ein zartes Rot. Als alle gegangen sind, liegt eine plötzliche Stille über der Bucht, und man hört nur noch die Wellen, bis elektronische Musik aus dem Kofferraum eines Autos erklingt, das an der Uferstraße parkt.
Die Fischer reden kaum mit ihm. Alle, die er auf den Tod seines Großvaters angesprochen hat, ignorieren ihn seitdem. Einige werfen ihm feindselige Blicke zu, wenn er durch die Straßen der Altstadt läuft, andere grüßen übertrieben freundlich. Manchmal hat er den Verdacht, paranoid zu sein. Er weiß nicht genau, wer wer ist, und er stellt keine Fragen mehr, zumal er sich inzwischen bedroht fühlt. Oft hört er hinter den Fensterläden die Gespräche der Fischer und der jungen Leute, die auf der kleinen Treppe rauchen und dealen. Die Themen der Fischer sind so endlos wie unergründlich. Streit um die Aufteilung der Fische, gegenseitige Beleidigungen, Tratsch.
Als er von einem seiner morgendlichen Läufe zurückkehrt und vor dem Restaurant Embarcação eine Pause einlegt, um kurz ins Wasser zu springen und ein paar Dehnübungen zu machen, fällt ihm eine Frau am Zaun neben der Rampe zum Strand auf, die mit ähnlichen Übungen beschäftigt ist. Als er näher kommt, sieht er, dass ihre Augen schmal wie die einer Asiatin sind und ihre Haut milchig unter den geröteten Wangen. Sie ist von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet. An ihrem Äußeren ist nichts ungewöhnlich, nichts, woran er sie beim nächsten Mal erkennen könnte. Sie dehnt ihren Oberschenkel, und er zeigt ihr, wie der Fuß beim Standbein nach vorne zeigen muss, wie sie den Oberkörper gerade halten und die Spitze des ausgestreckten Fußes mit beiden Händen umfassen soll, was sie problemlos schafft. Sie merkt, dass der Muskel jetzt anders beansprucht wird. Ihr Name ist Sara, sie ist Apothekerin und arbeitet in einer der Apothekenketten in der Stadt. Ihr Mann ist
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