Flut
in ihren großen Augen spiegelt, sie sind grün und durchsichtig wie das Wasser an diesem Tag. Er kann sie gut sehen, obwohl sie nicht in seine Richtung blicken, so wie Pferde oder Vögel, die uns beobachten, ohne den Blick auf uns zu richten.
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Ende des Monats kündigt sich mit einem unermüdlichen Lautsprecherwagen und Plakaten an Straßenlaternen und Supermarktmauern ein Zirkus an. Nachdem Dália sich beschwert hat, er ließe sich gar nicht mehr blicken und antworte nicht auf ihre Nachrichten, beschließt er, als Zeichen seines guten Willens, sich am Samstagabend mit ihr und Pablo die Vorführung anzusehen. Das hat auch persönliche Gründe. Als Kind und als Jugendlicher nahm ihn seine Mutter ab und zu mit ins Theater und ins Ballett, und sein Vater fuhr mit ihm zum Viehmarkt der Landwirtschaftsmesse, zu den traurigen Tieren im Simba Safari Park oder den Stockcar-Rennen auf dem Autódromo von Tarumã, und ein oder zwei Mal im Jahr lief ein neuer Van Damme oder König der Löwen im Kino, aber im Zirkus war er noch nie. Am Samstagnachmittag geht er in den Supermarkt und holt sich drei Gutscheine, mit denen Erwachsene fünf statt zehn und Kinder drei statt fünf Reais für die Tickets zahlen. Die in Schwarz und Magenta gedruckten Zettel mit dem Gesicht eines Clowns mitten drauf versprechen Attraktionen wie The Brother Show, Fliegende Trapezkünstler, Wunderhübsche Mädchen, Clowns, Jongleure, Vertikaltuch, Schlangenmenschen, Los Bacaras (Internationale Attraktion), Kugel des Todes mit drei Motorrädern, Spider-Man live und Das Verrückte Taxi. Der Mond scheint hell an diesem kühlen Abend, und die Popcorn-Wagen verbreiten den Duft von Karamell und Butter. Er trifft sich mit Dália und Pablito auf dem Platz vor der Post. Dália muss heute nicht in die Pizzeria, sie strahlt und ist aufgedreht und sieht sich alles mit übertriebener Begeisterung an. Von einer Stunde auf die andere scheint sie vergessen zu haben, dass sie sich von ihm ignoriert gefühlt hat, trotzdem wirft sie ihm vor, ihre Freundschaftsanfrage auf Facebook nicht beantwortet zu haben, das sei respektlos. Er war seit drei Monaten nicht auf Facebook. Die Leute laufen auf das große, blau-gelbe Zelt zu, das auf dem Grundstück hinter dem Ärztehaus aufgebaut wurde. Pablito will den Löwen sehen. Der Zirkus hat keinen Löwen, aber statt dem Jungen die Freude zu nehmen, stellt er sich unwissend. Glaubst du, es gibt einen Löwen? Doch, bestimmt. Hat Mama gesagt!, ereifert sich der Kleine und hüpft von einem Fuß auf den anderen. Und eine menschliche Kanonenkugel! Wir werden sehen, wir werden sehen, weicht er aus. Dália sagt, er brauche sich keine Sorgen machen, der Junge werde alles toll finden, was er zu sehen bekommt, er mag einfach alles und kümmert sich nicht um Versprechungen, vielleicht ist das sogar ein Problem, sie glaubt, er habe womöglich ADHS, glaubst du, er hat ADHS? Das muss man früh behandeln, hab ich gehört. Sie streift ihn mehrmals am Arm, und er weiß nicht, ob er ihre Hand nehmen soll, vor den Leuten, und vor dem Kind. Er hat Angst, gegen die gesellschaftlichen Regeln hier im Ort zu verstoßen. Er ist der Onkel mit der Schwimmbrille. Sie trägt hohe Absätze und Shorts. Ihre Waden sind eingecremt und glänzen. Ihm scheint, dass sie stärker geschminkt ist als sonst. Er würde sie gern küssen, hält sich aber zurück. Ein rosafarbener LKW wurde zum Kassenwagen umfunktioniert, hinterm Schalter sitzt ein strahlendes Mädchen mit Glitzer auf den Wangen, Lipgloss und einer blauen Schmetterlingsmaske. Sie nimmt die Gutscheine und dasGeld entgegen und reicht die Tickets durchs Fenster. Wahrscheinlich eines der Wunderhübschen Mädchen. Zwei zirka sechzehnjährige, als Clowns verkleidete Jungs stehen untätig vor dem Eingang und sehen zu, wie das Publikum eintrudelt. Sie laufen durch einen Gang vorbei an Ständen mit Liebesäpfeln, Zuckerwatte, Hot Dogs, Popcorn und Churros und kommen zu einem offenen Areal mit Dixiklos, Wohnwagen, Anhängern und alten Autos in miserablem Zustand. Ein Chevrolet Opala der ersten Generation, ein Käfer, ein guter alter Ford Belina, ein Caravan und ein roter, komplett lädierter Passat aus den Siebzigern. Die Seile, die die Plane über dem Essensbereich halten, sind am Fahrgestell eines alten Lastwagens befestigt, ein ziegelroter Scania 110, der selbst aussieht wie ein exotisches Tier. Dália will einen Liebesapfel und Pablito Zuckerwatte. Er nimmt ein Churro. Ein Stück weiter unter der Plane stehen ein
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