Flut
sagt Dália. Hast du gehört? Das bringt nichts. Eines der Mädchen hat einen blauen Schmetterling um die Augen gemalt, er nimmt an, dass es das Mädchen von der Kasse ist. Sie ist halbnackt. Er stellt sich vor, wie er es mit ihr auf der Motorhaube des roten Passats treibt. Ich will mich nicht mit ihm anlegen, ich will ihn nur erkennen, wenn ich ihm begegne. Drei weitere Männer betreten die Manege. Der Ansager verkündet, mit der Nummer hätten sievor Kurzem eine Talentshow im Fernsehen gewonnen. Die Truppe tanzt und führt akrobatische Kunststücke auf, das Publikum ist beeindruckt. Die folkloristische Musik wird von karibischen Klängen abgelöst. Die Jugendlichen um sie herum amüsieren sich über die menschliche Pyramide und machen anzügliche Bemerkungen. Nach der African Show wird die Kugel des Todes aufgebaut. Die Clowns rufen solange die Kinder in die Manege, und kurz darauf stürmt ein Schwarm Homunkulusse die Bühne. Die Kinder hüpfen und brüllen herum und wissen nicht wohin mit ihrer Energie. Pablito ist auch da und wartet, bis der Clown ihn übers Mikro nach seinem Namen fragt. Dália wird etwas nervös, weil Los Bacaras gerade die große Metallkugel aufstellen, während die Clowns mit den Kindern herumalbern. Die Situation kommt ihr gefährlich vor. Zum Glück passiert nichts. Die Knirpse werden aus der Manege gebracht, woraufhin der zehnjährige Jonatan, ein junges Talent, mit seinem Minimotorrad hereingefahren kommt und zu Sweet Child o’ Mine die ersten Kunststücke in der Kugel vorführt. Für die abschließende Attraktion wird die Beleuchtung heruntergefahren. Während die Motoren aufjaulen, entzündet sich ein Feuerwerk von Lichteffekten. Der Sprecher weist mit Grabesstimme auf die Risiken der Darbietung hin. Die Auspuffe knattern, das Licht erlischt plötzlich, und die Mädchen im Publikum stöhnen auf. Eins nach dem anderen fahren die Motorräder in die Kugel des Todes und sausen dort mit unfassbarer Waghalsigkeit zentimeterdicht aneinander vorbei. Die Zuschauer starren auf das Geschehen, als wären sie vom Benzingeruch betäubt. Der Anblick bringt einem den Tod als konkrete Bedrohung nahe. Niemand denkt mehr an etwas anderes, bis die Show vorbei ist. Später, bei ihr zu Hause, bringt Dália Pablo ins Bett, und sie sehen fern. Er nimmt an, dass die Wirkung vom LSD jetzt vorbei ist, und will gerade ein ernsthaftes Gespräch mit ihr beginnen, da nimmt sie seine Hand und sagt, Meine Mutter ist nicht da, lass uns in mein Zimmer gehen, derJunge wacht schon nicht auf, komm. Aber er bleibt sitzen und sagt, er könne die Beziehung nicht weiterführen und wolle von jetzt an lieber allein sein. Spinnst du?, fragt sie, nachdem sie die Information aufgenommen hat. Wie kannst du so was sagen, wenn ich gerade auf’m Trip bin? Aus ihrem Blick spricht tiefe Enttäuschung. Sie weint fast. Ausgerechnet heute? Nach so einem Abend? Musste das sein? Er weiß nicht, was er sagen soll. Wann wäre der richtige Augenblick gewesen? Nach einem Streit? Mitten in der Woche, wenn sie sich zwischen zwei Jobs aufreibt? Es gibt keinen richtigen Augenblick. Der richtige Augenblick ist, bevor es schlimm wird, oder? Nein, ist es nicht!, schreit sie fast. Erst muss es schlimm werden, du Idiot. Ausgerechnet heute? Und warum? Erklär mir, warum. Sie beruhigt sich, seufzt, streicht ihm mit der Hand übers Gesicht, schüttelt den Kopf. Geh nach Hause, wir sprechen ein andermal. Bitte. Er steht auf und macht Anstalten zu gehen. Aber warum?, fragt sie unnützerweise nochmal. Warum? Ich würde nur gern verstehen, warum.
Alle drei, vier Tage geht er ins Internetcafé am Platz und liest seine E-Mails. Der Posteingang quillt jedes Mal vor Nachrichten über, aber normalerweise sind nur zwei oder drei davon wichtig. Sein Anwalt hat geschrieben. Es gibt ein Problem mit dem Erbe. Seine Mutter überlegt, mit ihrem Freund ein Wochenende in Garopaba zu verbringen. Er antwortet, sie könnten bei ihm übernachten, wenn sie wollen. Ein ehemaliger Kommilitone lädt ihn zu seiner Hochzeit ein. Er schreibt, er könne nicht kommen, gratuliert und bestellt per Kreditkarte eine Brotmaschine aus der Geschenkeliste, die das Paar auf der Internetseite eines Kaufhauses eingerichtet hat. Dann liest er vier Rundmails von ihrer Laufgruppe. Sara und die anderen haben beschlossen, schon um sieben und nicht erst um halb acht mit dem Training zu beginnen, damit Denise, eine Freundin von Sara, mitmachen kann unddanach noch rechtzeitig zur Arbeit kommt. Er
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