Flut
Straße.
Er überlegt immer noch, wer die Frau ist. Sie ist schlank, zwischen vierzig und fünfundvierzig, und an ihren Armen ziehen sich die Adern wie Baumwurzeln bis zu den Händen entlang.
Das kann nicht sein, Beta liegt draußen vor der Tür vom Empfang, sagt er, in einem ungeduldigen Ton, der ihm selbst gekünstelt vorkommt. Wenn sie da nicht ist, liegt sie bei Mila an der Bar.
Er macht zwei Schritte in Richtung Ausgang, bleibt dann aber stehen, als er feststellt, dass er gar nicht weiß, wohin er will. Die Zwillinge beobachten die Szene mit aufgerissenen Augen. Sie sehen sich ähnlicher denn je. Er schwitzt, die Luft ist warm und stinkt nach Chlor. Die Frau packt ihn am Arm.
Komm mit. Der Mann, der sie überfahren hat, hat sie zu Greice gebracht. Du musst zu ihr.
Kennen wir uns?
Noch bevor er die Frage zu Ende gestellt hat, weiß er, dass er einen Fehler begangen hat.
Wie bitte? Bist du verrückt?
Er mustert ihr Gesicht, die Sandalen, den grün-goldenen Sarong mit indischem Muster, die unscheinbare Bluse, Ohrringe, Haare, Zähne. Nichts.
Sie legt die Hand an seine Wange und sieht ihn mit mütterlichem Blick an, als wäre er ihr kranker Sohn.
Ganz ruhig. Ich komme mit.
Er folgt ihr, sein Atem geht schneller. Außerhalb seines Sichtfeldes ist alles verschwommen und spielt keine Rolle mehr.
Ich bin es, Celma, deine Laufschülerin, sagt sie, den Blick auf ihn gerichtet.
Ich weiß, entschuldige, ich bin etwas verwirrt.
Das Gesicht gehört also zu Celma. Sie sind am Morgen zusammen gelaufen, und sie hat ihm ihr halbes Leben erzählt. Er entschuldigt sich nochmals. Sie schüttelt den Kopf, wie um zu sagen, das sei egal.
Als sie aus dem Schwimmbad kommen, kann er nicht anders und sucht nach Beta. Débora sagt, sie habe sie nicht gesehen. Celma verliert die Geduld.
Ich hab dir doch gerade gesagt, dass sie bei Greice ist. Lauf zu ihr, bevor sie stirbt! Soll ich dich hinbringen? Sonst fahr ich nach Hause.
Wer ist Greice?
Die Tierärztin bei der Pousada da Palhocinha. Der Mann wollte sie dort hinbringen.
Celma steigt auf ihr Fahrrad und fummelt in einem Korb herum, der mit Gummiseilen auf dem Gepäckträger befestigt ist.
Wie geht es ihr?
Celma presst die Lippen zusammen und seufzt.
Er ist über sie rübergefahren. Es hat sie richtig erwischt.
Aber lebt sie noch?
Ich weiß nicht. Sie sah ziemlich schlimm aus. Immerhin hat er angehalten und sich erkundigt, wo der nächste Tierarzt sei. Lúcia vom Café hat ihm erklärt, wie er zu Greice kommt. Als er die Hündin hochnehmen wollte, hat sie versucht, ihn zu beißen. Jemand hat ihm geholfen, und zu zweit haben sie sie ins Auto geschafft, und der Typ ist mit quietschenden Reifen los.
Die Praxis ist direkt an der Hauptstraße, oder? Mit dem grünen Schild.
Genau. Bei der Feuerwehr. Willst du mein Fahrrad haben?
Noch bevor sie die Frage zu Ende gestellt hat, bedankt er sich und saust davon. An der Hauptstraße biegt er links ab und stößt fast mit einem Radfahrer zusammen, der mit einem Surfbrett unterm Arm auf dem Radweg fährt. Er läuft weiter. In T-Shirt, Badehose und Flipflops. Als einer der Riemen reißt, wird er kurz langsamer, schleudert beide Schuhe mit einer unbeholfenen Bewegung von sich und rennt wieder los. Er kommt an einem Geschäft mit indischen Accessoires vorbei und an mehreren Pizzerias, die seit dem Karneval geschlossen sind. Im Sumpfgebiet rechts von der Straße, das sich mehrere Kilometer weit bis zu den Bergen erstreckt, brennt ein Feuer, von dem eine graue Rauchwolke aufsteigt. Er hört das Knattern von brennendem Bambus und sieht am Rande rosa Feuerzungen aufleuchten. Allmählich gerät er außer Atem. Das Gebüsch riecht nach Aas. Er rennt mit großen Schritten, den Blick fest nach vorn gerichtet, seine Füße schmerzen, und er fragt sich, warum er zu Fuß läuft, warum er nicht Celmas Fahrrad genommen oder jemanden gebeten hat, ihn hinzufahren, oder besser, warum er nicht sein eigenes Fahrrad genommen hat, das wie immer vor dem Fitnessstudio steht. Idiot. Kurz vor der Kreuzung zur Praia da Ferrugem bekommt er kaum noch Luft, der Geschmack von Zink steigt aus seiner Kehle auf. Ein kurzes Stück noch, dann erkennt er das grüne Schild, auf dem PetVida steht.
Der junge Mann an der Rezeption erschrickt, vielleicht war er auch vorher schon erschrocken.
Hat hier jemand einen überfahrenen Hund abgeliefert?
Der Mann sagt kein Wort und sieht ihn nur an. Eine durchaus übliche Reaktion hier in der Gegend. Die Leute scheinen
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