Flut
Florianópolis isst er ein Tagesgericht in einem Schnellrestaurant, läuft ein bisschen draußen herum und geht dann auf einen Zeitungsstand zu, um sich etwas zu lesen zu kaufen. Ein seltsam deformiert aussehender Mann nähert sich gleichzeitig dem Stand. Sein Kopf ist durch Elefantiasis oder irgendeine andere Missbildung völlig überdimensioniert, vor allem der Unterkiefer ist wahrscheinlich vier oder fünf Mal so groß wie bei einem normalen Menschen. Er hat beigefarbenes Haar und trägt Jeans und einen Wollpullover mit bunten Streifen. Der Mann sieht sich die Zeitschriften an, macht hin und wieder ein paar Schritte in die eine oder andere Richtung, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und scheint sich nicht darum zu kümmern, was für einen Eindruck er auf den Verkäufer und die Passanten macht, die schnell wegsehen, sobald sie ihn erblicken. Er tut so, als würde er eine Zeitschrift auswählen, und mustert dabei mehrmals das Gesicht des Mannes. Er nimmt das Triathlon-Magazin, das er von Anfang an hatte kaufen wollen, bezahlt und geht zurück zum Busbahnhof. Währenddessen versucht er, die Züge des Mannes so lange wie möglich imGedächtnis zu behalten, aber auch sie verblassen, wie alle anderen.
Als er im nächsten Bus sitzt, wirft er einen Blick auf den Google-Maps-Plan von Pato Branco, den er im Internetcafé ausgedruckt hat. Die Adressen von Zenão Bonato und von dem Hotel, das er ihm empfohlen hat, sind mit Kugelschreiber eingetragen. Die Handynummer hat er vom Sicherheitsdienst. Zenão war gleich einverstanden, sich mit ihm zu treffen. Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen, hatte er mit heiserer Stimme am Telefon gesagt. Wenn Sie unbedingt herkommen wollen, von mir aus. Ich erzähle Ihnen gern, was ich noch weiß.
Der Bus hält an jeder Milchkanne. Während der zwölfstündigen Fahrt bis Pato Branco schläft er die meiste Zeit und hört mit Kopfhörer leise Musik von seinem Handy. Jedes Mal, wenn der Bus in einer der kleinen Städte im Westen von Santa Catarina stoppt, wacht er auf und steigt kurz aus, um auf Toilette zu gehen und sich die Beine zu vertreten. Er isst die schlimmste Coxinha seines Lebens und träumt bis zum nächsten Halt von einer eiskalten Dose Cola. Es wird schon Morgen, als sie die Stadt erreichen und er von den Kurven und dem unebenen Straßenbelag aufwacht. Wegen der Entfernung zur Küste und der Höhenlage ist die Temperatur um einiges niedriger. Im Moment sind nicht mal zehn Grad. Er öffnet den Rucksack und holt die gefütterte Nylonjacke heraus. Die mit Tau bedeckten Felder und einsamen kleinen Landgüter weichen Häusern mit Veranden, bis sie auf einmal mitten in einem Stadtzentrum mit breiten Straßen, Passagen und kleinen Shoppingcentern sind. Vom Busbahnhof nimmt er ein Taxi zum Hotel. Der Wagen fährt steile, tadellos asphaltierte Straßen hinauf. Als der junge Mann am Empfang ihm den Schüssel überreicht, erklärt er feierlich, der Code laute achtundneunzig.
Welcher Code?
Vom Sportkanal, Senhor.
Vom Zimmer aus ruft er Zenão Bonato an. Der Ex-Kommissar sagt, er sei den ganzen Tag beschäftigt, ob sie das Treffen nicht auf später verschieben könnten, vielleicht gegen Mitternacht. Er findet das komisch, sagt aber, es sei kein Problem. Zenão bestellt ihn zu einem Laden namens Deliryu’s mit Ypsilon. Er notiert sich die Adresse auf einem Block, der auf dem Nachttisch liegt. Der Name klingt eindeutig nach einem Puff, aber er kommt nicht dazu nachzufragen, weil Zenão sich gleich darauf verabschiedet und auflegt.
Er schaltet den Fernseher an und tippt die Ziffern neun und acht in die Fernbedienung. Es läuft ein Porno mit Handlung, und im Moment sind sie gerade bei der Handlung. Er wartet, bis es zur Sache geht, und holt sich einen runter. Dann duscht er zwanzig Minuten lang heiß.
Auf seiner Armbanduhr ist es zehn Uhr morgens. Er zieht sich an, geht aus dem Hotel, läuft ein paar Straßen hinunter und landet an einer breiten Avenida mit einem großen Platz und einer gut gepflegten Grünanlage. Er kann sich nicht erinnern, schon mal in einer dermaßen sauberen und ordentlichen Stadt gewesen zu sein. Die Nebenstraßen sind so gut wie ausgestorben, aber auf den Hauptstraßen herrscht viel Verkehr. Die Innenstadt ist voller moderner Gebäude mit mehr als zehn Stockwerken, aber die Blumenkästen und Gärten erinnern eher an kleine Provinzorte. Es riecht nach Kohlenmonoxyd und feuchter Erde. Die Frauen sind gleichzeitig schlank und kräftig. Er zieht Geld, checkt in
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