Flut
ein Fluch. Nimm dieses verfluchte Viech hier weg, sagt sie immer.
Greice fragt, wie er Beta nach Hause bringen will. Er gesteht, dass er sich noch keine Gedanken darüber gemacht hat, und ruft ein Taxi. Mit einem Scheck begleicht er die ausstehende Summe. Greice schenkt ihm eine Schachtel Hundekekse. Als das Taxi da ist, gibt er der Hündin ein paar Klapse auf die Rippen und trägt sie in den Wagen.
An den folgenden Tagen denkt er zum ersten Mal daran, nach Porto Alegre zurückzugehen oder zumindest woanders hinzuziehen. Er schläft zu viel. Er wacht irgendwann vom Motorenlärm der Fischerboote auf, die von ihrem Fang zurückkehren, oder von den Stimmen der Jugendlichen, die auf der Treppe Haschisch rauchen. Er schmiert Honig und Sesamöl auf eine dicke Scheibe Vollkornbrot und isst sie im salzigen Wind. Bei Vollmond ändert sich das Wetter nicht bis zur nächsten Mondphase. Ostwind bringt schlechtes Wetter. Wer hat ihm das beigebracht? Er kann sich nicht erinnern. Er freut sich über den Winter, auch wenn er nicht weiß, warum. Es fühlt sich gut an, abends die Suppe aufzuwärmen oder die eisige Luft zu spüren, wenn er nach dem Schwimmen den Reißverschluss seines Neoprenanzugs aufzieht. Er fühlt sich wohl in dieser Jahreszeit, von der die meisten hoffen, dass sie schnell vorbei ist. Irgendetwas Unbestimmtes liegt in der Luft, etwas, das ihn irgendwann zwangsläufig erwartet. Solche Phasen kommen dem, was er als Unglücklichsein kennt, am nächsten. Manchmal glaubt er, unglücklich zu sein. Falls das so sein sollte, ist das Leben erstaunlich gnädig. Vielleicht hat er noch nichts wirklich Schlimmes erlebt, immerhin fühlt er sich bereit.
Viviane hat ihm mal etwas über die griechischen Götter erzählt, damals, als sie Literatur studierte und sie schon zusammenwohnten. Stell dir vor, unser Leben würde so aussehen, und die Götter würden voraussagen, dass wir eine Schlacht gewinnen, einen Schiffbruch überleben, die Familie wiedersehen, den Tod des Vaters rächen. Oder das Gegenteil, dass wir geschlagen würden oder jahrelang Furchtbares erleiden müssten, bevor wir unser Ziel erreichen, dass wir zugrunde gehen oder sogar sterben. Und sie sagen einem genau wie, wann und wo, und danach fliegen sie davon und lassen uns Sterbliche mit der Aufgabe zurück, etwas zu erfüllen oder auszuführen, was da oben im Olymp schon lange beschlossen wurde. So eine Scheiße. Er fände das gar nichtso schlecht, hatte er erwidert. Ihm gefiel der Gedanke an Götter, die einem ins Ohr flüsterten, was einem noch alles widerfahren würde. Er glaubt nicht wirklich daran, in seinem Herz ist kein Platz für Götter, aber er hat das Gefühl, dass es im normalen Leben etwas Entsprechendes gibt, einen natürlichen Vorgang, einen Mechanismus im Körper oder im Geist, der Dinge vorwegnimmt, die wir später als Schicksal bezeichnen können. Seiner Meinung nach funktionierte das Leben tatsächlich ein bisschen so. Im Großen und Ganzen weiß man schon, was passieren wird. Jeder Überraschung stehen Hunderte von Situationen gegenüber, in denen sich bestätigt, was man mehr oder weniger schon vorher wusste oder ahnte, wobei diese Tatsache meist unbemerkt bleibt. Viviane regte sich wahnsinnig darüber auf. Zum einen, weil es ihm an Bildung und Vokabular mangelte und er sich nicht entsprechend ausdrücken konnte, zum anderen, weil sie seine Ansichten vehement ablehnte. Sie sprach dann vom freien Willen, der Freiheit des Menschen, selbst zu entscheiden, welchen Lauf die Dinge nehmen sollten, und sie konnte es nicht ertragen, dass ihm das nicht genauso selbstverständlich vorkam wie ihr. Solche Diskussionen konnten aus einem Witz oder einer zärtlichen Provokation heraus entstehen und zu erbitterten Wortgefechten ausarten, bei denen er seine Position aus Mangel an Argumenten und rhetorischem Vermögen schließlich mit Starrsinn oder Schweigen verteidigte.
An einem der ersten Julimorgen zieht er Hemd und Strümpfe aus, schlüpft in seine Shorts und nimmt Beta auf den Arm, um mit ihr die Treppe zum Felsen hinunterzulaufen. Das Meer ist mit Schaumkronen bedeckt, aber die Wellen sind klein und flach. In der Sonne ist die Kälte halbwegs erträglich. Er lässt Beta am Rand des Felsens stehen und steigt vorsichtig über die Muscheln und Algen, die sich unter dem Schaum verbergen. Er nimmt die Hündin auf den Arm, geht etwas tiefer hinein und taucht sie ins eiskalte Wasser. Völlig perplexstarrt sie nach vorn. Sie ist es nicht gewohnt, ins Wasser zu
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