Flut
gehen, und schon gar nicht ins Meer. Die Wellen machen ihr Angst. Instinktiv fängt sie an, mit den Beinen zu paddeln. Er feuert sie an und taucht aus Solidarität mit ihr auch bis zum Hals unter. Als sie ihren Rhythmus gefunden hat, greift er mit einer Hand unter ihren Bauch, um sie zu stützen. Sie schnieft und niest, sobald das Wasser ihre Schnauze berührt. Sie werden von einer Gruppe von Geiern beobachtet, die kurz darauf ihre prächtigen Flügel schwingen und wegfliegen. An Land sind sie grässlich, aber in der Luft wunderschön. Als die Kälte kaum noch zu ertragen ist, nimmt er die Hündin unter den Arm, geht mit ihr nach Hause und wickelt sie in ein Handtuch. Dann stellt er sie unter die warme Dusche und trocknet sie sorgfältig ab. Er wärmt die Suppe auf, nimmt ein paar gute Stücke Fleisch heraus und gießt sie in ihren Trinknapf. Das macht er jetzt jeden Tag, auch wenn es regnet.
Eine Touristengruppe in gelben Regenjacken, mit orangenfarbenen Schwimmwesten und Fotoapparaten um den Hals, steigt in ein großes Boot, das vor den Fischerhütten ankert. Ein kleineres Boot fährt mehrmals hin und her, um sie vom Strand abzuholen. Er beobachtet das Manöver, während er im Wasser Übungen mit der Hündin macht. Das Boot sticht mit lautem Motorengeräusch in See und verscheucht die Möwen, die in der Nähe der Fischerboote auf dem Wasser dümpeln. Sie breiten die Flügel aus und laufen kurz über die Wasseroberfläche, bevor sie abheben.
Später, nachdem er die Hündin abgetrocknet und gefüttert hat, geht er zum Touristikbüro in der Hauptstraße. Caminho do Sol. Abenteuertourismus, Wanderungen, Reittouren, Seilklettern an der Pedra Branca, Whale Watching. Das Büro befindet sich hinter einer Glasscheibe in dem großen Schuppen, vor dem sich die Touristen am Morgen versammelt haben. Direkt davor steht ein rotes Motorrad. Der Wirbelknochen eines Wals neben der Tür dient als Blickfang und erinnert daran, dass die heutzutage verbotene Waljagd früherdie wichtigste wirtschaftliche Aktivität hier in der Gegend war. Spuren aus dieser Zeit finden sich überall, von den alten Gebäuden, die mit Mörtel aus Walöl gebaut wurden, bis hin zu den Knochen, die Häuser, Gärten und Pensionen schmücken.
Als er die Glastür öffnet, glaubt er für einen Augenblick, dass die Frau mit den krausen, hochgebundenen Haaren, die auf einen Monitor starrt und dabei eine Mate-Kalebasse zum Mund führt, Dália ist. Sie sitzt leicht nach vorn gebeugt, ihre Augen scannen in horizontalen Bewegungen den Bildschirm ab. Allerdings ist sie schwarz und kann deswegen nicht Dália sein. Sie trägt eine weiße Bluse und einen braun-orangefarbenen Rock, die eher wie irgendwie am Körper befestigte Stoffbahnen aussehen als wie Kleidungsstücke. Er sagt Guten Tag, und sie grüßt zurück, sieht aber erst zu ihm rüber, nachdem sie zu Ende gelesen hat.
Hallo. Willkommen! Tut mir leid, ich musste das eben noch kurz lesen. Setz dich. Ich heiße Jasmim, und du?
Ihre Stimme ist tief und voll. Sie sagt, die Tour koste hundert Reais und für den nächsten Tag seien noch Plätze frei. An Bord sei auch ein Biologe, der den Teilnehmern während der Fahrt etwas über die Glattwale erzähle. Aus naturschutzrechtlichen Gründen darf das Boot höchstens drei Mal an die Wale heranfahren und muss einen Mindestabstand von hundert Metern einhalten, oft seien die Wale aber auch neugierig und kämen von sich aus auf die Boote zu. Das könne man aber nicht garantieren. Das Boot fährt nach Ibiraquera, wo sich die Tiere zu dieser Jahreszeit am meisten aufhalten. Wir fahren die Felsküste entlang vorbei an den Stränden von Ferrugem, Ouvidor und Rosa. Eine sehr schöne Strecke. Für morgen sind Sonne und wolkenloser Himmel angesagt. Um neun geht es los, aber man muss um halb neun da sein, damit sich alle sammeln und die Schwimmwesten anlegen und so. Wenn noch Platz ist, fahre ich morgen mit. Ich war erst einmal dabei.
Sie saugt an ihrem Mate, bis der Tee gurgelnd zur Neige geht.
Möchtest du auch?
Ja, gern.
Sie öffnet die Thermosflasche und füllt die Kalebasse mit dampfendem Wasser auf.
Was hast du gelesen, als ich reinkam?
Ach, etwas in einem Blog.
Worüber?
Darüber, dass die Menschen heutzutage das Bedürfnis haben, alles zu vergöttern. Und über den Unterschied zwischen Mythos und Idol.
Ah, klingt interessant.
Ist es auch. Willst du jetzt morgen mitfahren?
Ja.
Sie schreibt seinen Namen und seine Telefonnummer auf. Eine hervortretende Vene zieht
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