Flut
ergreift das Wort und sagt, sie alle seien sehr froh, ihn als Schwimmlehrer zu haben, und würden ihm auch verzeihen, dass er sich nie ihre Gesichter merken kann. Er brauche sich dafür nicht zu schämen, weil sie spürten und wüssten, dass sie ihm nicht egal seien, und dass sie alle immer besser würden und immer mehr Spaß am Schwimmen hätten. Sie alle hofften, dass er glücklich sei hier in Garopaba, weil sie froh seien, dass er hier sei und sie ihn als einen der Ihren betrachteten. Außerdem hätten sie zusammengelegt und ein Geschenk für ihn gekauft. Die Zwillinge treten vor, sie tragen zusammen eine Papiertüte aus einem Sportgeschäft. In der Tüte ist eine Windjacke von Nike, speziell zum Laufen.
Nach der Grillfeier fährt er zu Bonobo in die Pension. Um den Küchentisch herum sitzen Altair, Diego von der Tankstelle und Jaspion, ein junger Mann mit langen glatten Haaren, Sohn eines Koreaners und einer Brasilianerin. Jaspion wohnt an der Praia do Rosa und ist Messerschmied. Seine minutiös gearbeiteten Klingen mit Griffen aus Elfenbein, Giraffenknochen und anderen Materialien, deren Handel streng reguliert oder verboten ist, verkauft er für Tausende von Dollar an Sammler und Liebhaber von Stichwaffen auf der ganzen Welt. Er führt ein komfortables Leben mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in einem Haus mit Atelier am Strand und verkauft vielleicht fünf oder sechs Messer im Jahr. Die Küche ist verqualmt und stinkt nach Diegos Nelkenzigaretten und der billigen Zigarre von Bonobo, der sich nach seinem Besuch in Pato Branco erkundigt. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her, rückt dabei die Windel zurecht,die ein bisschen an der Leiste kneift, und erzählt von seinen Abenteuern im Südwesten von Paraná.
Scheiße, Mann, sagt Bonobo. Gott ist tot, ja? Ich könnte niemals ein Mädchen mit so einem Tattoo überm Arsch vögeln.
Er tauscht zwei Karten und hat einen Drilling und ein niedriges Paar. Er verdoppelt. Bonobo passt. Diego passt. Jaspion nimmt an und verdoppelt nochmal, dabei schaut er siegesgewiss auf sein Blatt, zieht die Oberlippe ein, reibt sich das Kinn und lächelt unauffällig. Kein einziges Mal nimmt er den Blick von den Karten. Der Mann blufft. Er will sehen. Jaspion hat zwei hohe Paare.
Full House.
Scheiße, Bonobo, was schleppst du hier für Schwuchteln an?
Danke, meine Herren, sagt er und sammelt die Streichhölzer ein.
Neunhundert Reais in einem Puff in Pato Branco auf den Kopf zu hauen, scheint Glück zu bringen.
Das hat nichts mit Glück zu tun, protestiert er feierlich. Man muss den Gesichtsausdruck und die Körpersprache seines Gegners lesen können.
Das Glück des Hurenbocks. Ist doch ein Klassiker.
Seht euch mal Altair an. Ich glaub, der pinkelt gerade.
Quatsch, tu ich gar nicht.
Pinkelst du, Altair?
Nein.
Aber sag mal, konnte der Herr Kommissar dir irgendetwas Neues über deinen Großvater erzählen?
Ja, schon. Aber ich glaube, es war eher verwirrend als hilfreich. Irgendwann hab ich aufgegeben. Das Ganze macht mich noch verrückt. Lass uns nicht mehr drüber reden.
Bonobo teilt aus und sagt, er werde nächste Woche einen Retreat im Tempel von Encantada machen. Eine Woche lang jeden Tag um halb fünf aufstehen, gegen die Wand guckenund beten. Das würde dir bestimmt gefallen, Schwimmer. Irgendwann musst du das auch mal machen.
Gegen die Wand gucken finde ich gut, aber beten nicht so.
Ich passe.
Ich auch.
Warum Ingenieure?
Was?
Nichts, ich denk nur laut nach. Der Typ im Hotel meinte schnelle Frauen, langsame Pferde und Ingenieure. Das ergibt keinen Sinn.
Scheiße.
Was ist, Altair?
Scheiße, das Ding ist ausgelaufen.
Altair steht auf und rennt zur Toilette.
Au, Mann, so ein Dreck.
Das Leben ist nichts für Amateure.
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6 23. Juni 2008. Ein höllischer Kater. Ich hab heute Führerscheinprüfung. […] Bevor er gegangen ist, wollte ich ihm etwas zeigen, das eigentlich niemand sehen darf, und bin mit ihm in den Flur zur Garderobe, wo die Mädchen eine Pinnwand haben. Da hängen sie irgendwelche Dinge auf, die sie daran erinnern, warum sie dort arbeiten. Fotos von ihren Kindern, ein New-York-Schlüsselanhänger, ein Lotterielos. Márcia will zum Beispiel Stewardess werden und hat ein Bild von einem Flugzeug hingehängt. Manches versteht man nicht: ein Damenlederhandschuh, ein Totenkopfring, und eines der Mädchen steckt immer einen blauen Schmetterling an die Wand, bis er total vertrocknet ist, dann steckt sie den nächsten dran, keine Ahnung, wo sie
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