Flutgrab
wieder dreizehn Jahre alt, und der Lehrer am Koberg hatte seinen Stock bereits gezückt und verlangte die Lateinaufgaben zu sehen. Mit einem Kloß im Hals blickte er sich zum Dom um. Die Zwillingstürme des riesigen Backsteinbaus ragten in den Himmel. Schwarz auf schwarz. Es war kein Stern zu sehen, bloß der Mond versteckte sich hinter den Wolken.
»De Kraih?«
»Ja?« Der hagere Mann war vor einem gekalkten Backsteinbau stehen geblieben, hielt die Öllampe in den Regen und versuchte, Rungholt zu erkennen.
»Ihr hättet ruhig sagen können, welcher Teufel Euch schickt.«
»Tut mir leid. Ich habe meine Order.« De Kraih verneigte sich und gab mit großer Geste den Weg frei.
Rungholt trat vor. Sein Blick glitt zur Seite. Neben der Tür hingen Wimpel tropfend herab. Es sah aus, als weine die Lilie in ihrem Wappen. Er bekreuzigte sich, bevor er den silbernen Türöffner packte. Sie waren nicht zu einem Konkurrenten unterwegs oder einem Käufer für die Brauerei, sondern zu einem sehr viel unangenehmeren Mann.
D’ Alighieri.
Auf Roberto d’ Alighieri war in Lübeck niemand gut zu sprechen. Abfällig nannten sie ihn alle den Florenzer. Zumindest hinter vorgehaltener Hand, denn niemand wollte sich mit dem mächtigen Mann anlegen.
Die ehrbaren Lübecker wechselten lieber die Straßenseite, wenn sie ihn sahen – und gaben dem Mann niemals die Hand. D’ Alighieri galt als unrein, weil er Geldgeschäfte machte und mit den Schulden anderer seinen Lebensunterhalt verdiente. Der Kontakt mit ihm war laut Ratsbeschluss verboten – trotzdem stand jedes Ratsmitglied früher oder später vor seinem wimpelbewehrten, weiß getünchten Haus. All die wohlbeleibten, mit Ketten behängten Händler gaben sich bei d’ Alighieri die Klinke in die Hand und fluchten dennoch über den florentinischen Teufel.
Auf alles gefasst, trat Rungholt ein und sah sich um. De Kraih löschte seine Lampe und ging voraus, wo sich vor ihnen ein Labyrinth eröffnete. Von außen wirkte das gepflegte Haus mit den grünen Bleiglasfenstern nicht groß, aber d’ Alighieri hatte es mit den umstehenden Häusern verbunden, hatte Wände herausgebrochen und die Dielen mit einem unübersichtlichen Netz von Fluren durchzogen. Links und rechts führten immer wieder Türen in winzige Kammern, die Rungholts Dornse ähnelten, nur dass sie noch kleiner waren. Fensterlose Zimmer, in denen die Lübecker ihr letztes Hab und Gut für ein mickriges Darlehen hergaben. Zellen wie in der Fronerei, dachte Rungholt. Wie im Kerker am Schrangen werden die Lübecker auch hier festgekettet. Nicht durch Eisen, sondern durch ein viel wirksameres Mittel: einen Vertrag. Die Schulden schnüren so manchem Handwerksmeister und Kaufmann mehr Blut ab, als eine Halskrause das vermag.
Ein Weinen drang zu ihnen und ein paar Schritte später das Flehen eines alten Mannes. Geldklimpern und das metallene Schaben von Waagschalen hallten durch den Flur. Spärlich beleuchteten Öllampen und Kerzen die Gänge. Ihre Flammen spiegelten sich matt in den dunklen Holzvertäfelungen. Rungholt kam es vor, als könnte er die Verzweiflung der Schuldner riechen.
Im Vorbeigehen sah er durch einen Türspalt einen blässlichen Schreiber. Der junge Mann fuchtelte mit seinem Griffel durch die Luft und redete auf einen Kaufmann ein, den Rungholt im ersten Moment für den Kämmerer der Zirkelgesellschaft hielt, ein ehrbares Ratsmitglied aus der Mengstraße. Kaum wollte Rungholt sich jedoch vergewissern, ließ der Schreiber die Tür vor Rungholts Nase durch einen Stoß mit dem Fuß ins Schloss krachen.
Rungholt hatte nie in einer dieser Kammern gehockt, weil er seinen bisher einzigen Kredit mit d’ Alighieri persönlich verhandelt hatte. Dennoch spürte auch er seit letztem Winter, wie die Halskrause aus Rückzahlungen und Zinsen seine Kehle zuschnürte.
Zinsen, dachte er verächtlich. Verboten und dennoch geduldet. Weil die meisten Ratsherren selbst in d’Alighieris Verlies hinabstiegen, um eine Kiste voller Gold herauszuziehen. Und wofür? Um sich noch prächtigere Gewänder zuzulegen und ihre Frauen auszustaffieren, damit jeder auf dem Markt sah: Seht her! Ich habe Geld! Ich habe Macht!
D’ Alighieri lebt von der Prahlsucht anderer, dachte Rungholt. Vom Versagen, von Lügen und Neid. Das ist seine Nahrung.
Unvermittelt verzweigte sich der Flur. Obwohl Rungholt schon mehrmals hier gewesen war, um für seine Unternehmungen in England den Kredit zu bekommen, hatte er noch immer das Gefühl, ins Labyrinth
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