Flutgrab
Lederer hatte Wasser vom Brunnen holen wollen und war zwischen die Schober getreten.
»He du«, schrie er. »Was machst du da?«
Marek riss den Kopf herum und sah, wie der Mann den Eimer wegschmiss und einen Dolch zückte. Unerschrocken stürmte er auf Marek und die Pferde zu.
»Hier ist wer! Kommt raus! Poling, Tüks!« Sein Rufen ließ die Pferde scheuen. Der Rappe schüttelte sich, wollte sehen, wer da auf ihn zulief, und Marek verlor beinahe das Gleichgewicht. Er musste sich fallen lassen, rutschte falsch herum aufs Pferd und hieb ihm in blinder Panik mit der Hand auf den Hintern. Zabel war auf zwei Klafter herangekommen, da stürzte der Kaltblüter los. Marek versuchte, sich an irgendetwas zu klammern, konnte sich aber nur in den breiten Rücken des Gauls krallen und schoss rückwärts durch die Nacht.
»Lauf«, rief er. »Los doch. Lauf.«
Hinter Zabel tauchten zwei Armbruster auf, doch bevor sie ihre Waffen auf den Boden gepflanzt und die Sehnen mit der Kurbel gespannt hatten, war Marek – durchgeschüttelt und schreiend – übers Feld und ins Unterholz geritten. Kaum zwischen den Bäumen warf das Pferd ihn ab, und er fiel zwischen nasse Äste in den Morast. Taumelnd kam er hoch.
Zabel und die Männer hatten noch nicht aufgegeben. Fackeln näherten sich über das Feld. Sie hatten sich die Pferde geschnappt. Panisch sah sich Marek nach dem Rappen um.
37
Ecke Fleischhauer und Via Regia hielt Rungholt unter der Traufe eines Bernsteindrehers inne und nahm sich die Bretter aus Agnes’ Alkoven vor.
Er schob sie auf ein Wasserfass und brachte sie in die richtige Reihenfolge.
Agnes hatte sich mit ihrem Gryps gezeichnet. Die Arbeit war gar nicht mal schlecht. Rungholt konnte sich vorstellen, wie sie sich Abend für Abend vor Sehnsucht verzehrte und begann, ein bisschen in den Brettern zu schnitzen. Das Bild uferte immer weiter aus, bis es zu dem wurde, was nun der Regen benetzte.
Richtig zusammengelegt zeigten die Bretter Agnes und Gryps Hand in Hand. Wie Maria und Johannes vor dem gekreuzigten Jesus standen sie da. Etwas steif und unproportioniert. Doch Rungholt war die Zeichnung der beiden Liebenden gleich. Genau wie die schwungvolle Umrahmung in Herzform, die wohl einen Rosenstrauch andeuten sollte. Worauf es ihm ankam, war das Gebäude, das Agnes an der Seite skizziert hatte und vor dem sie beide stehen sollten: der Schafferturm. Einfach zu erkennen an der abgeknickten Haube. Um Christi Himmelfahrt war eine Buche auf ihn gestürzt, wobei ein Wachhabender getötet und ein zweiter verletzt wurde. Die Stube der Wachmannschaft hatte man daraufhin in die alte Burg verlegt und seitdem den Turm nicht wieder hergerichtet.
Ein schönes Liebesnest. Etwas verschwiegen hinter einem kleinen Buchenhain gelegen und mit einem wunderbaren Blick über die Wakenitz und die Felder vor Lübeck.
Rungholt nahm die Bretter wieder unter den Arm, rückte sein Waffenwams zurecht und trat mit seinen bloßen Füßen in den Regen. Noch einmal zog er das Schwert aus der Scheide, wog es in der Hand und ließ es wieder einfahren. Das Schlagen des Metalls an seiner Seite gab ihm Halt, auch wenn es lange zurücklag, dass er mit Marek auf den Bleichwiesen Kämpfen geübt hatte.
Als er die Waffe aus dem Kellerabgang geholt hatte, wo seine Schwerter und Äxte lagerten, hatte er feststellen müssen, dass auch das Untergeschoss bis auf Brusthöhe vollgelaufen war. Alle Schinken, von mehr als fünf Schweinen, waren vernichtet. Seit Tagen mussten sie im Wasser gehangen haben, ohne dass es eines der Weiber bemerkt hatte. Tobend hatte er Contz befohlen, sie mit dem Handkarren zu den Armen zu bringen. Mochten die sich noch einen Bissen aus dem aufgeschwemmten und von Ratten angenagten Fleisch schneiden. So hatte er jedenfalls etwas für sein Seelenheil getan.
Den Zorn jedoch, den versuchte Rungholt zu behalten. Ihn aufzubewahren wie den gallenen Hirsebrei, der nach jedem Essen zurück in den Grapen wanderte. Der Zorn sollte ihm Wegbereiter sein, wenn er Gryps stellte.
Er wusste, dass der Mann im Turm war. Er wusste es einfach, denn er wusste, was es hieß, Sehnsucht zu haben. Laut d’ Alighieri konnte der Schmied die Stadt nicht verlassen, und zu seiner Wohnstatt war er nicht zurückgekehrt. Dieses Versteck war perfekt.
Weil er kein Wort mehr mit Alheyd sprechen wollte, hatte er sich in seine Dornse zurückgezogen, sein Lederwams und schwere Stiefel angezogen, sich einen Tappert übergeworfen und auf Marek gewartet. Vergeblich. Bisher
Weitere Kostenlose Bücher