Flutgrab
Waffe sinken.
Kein Gryps. Hier war kein Hüne von einem hammerschwingenden Schmied.
Im Schein der Kerzen konnte er ein Laken sehen. Das war alles. Ein Laken, umringt von zwölf Kerzen. Sie waren alle verschieden in ihrer Form, zusammengeklaut. Wahrscheinlich auch das Laken.
Rungholt steckte das Schwert weg, suchte Halt und kniete sich hin. Unter dem Laken floss Blut über die Bretter.
Was hast du bloß mit all den Kindern gemacht?
Unwillkürlich suchte Rungholt das Laken nach der Stelle ab, wo der Kopf sein musste. Aber da war nichts.
Lass es nicht wahr sein.
Behutsam fasste er das Laken und zog es langsam beiseite. Nackte Kinderfüße, Beine, ein ausgezehrter Oberkörper und … der Kopf. Er war da. Der Junge hatte ihn nur zur Seite gekippt.
Rungholt atmete aus. Es sah friedlich aus, wie das Kind dalag. Die Hände zum Gebet gefaltet, die Augen geschlossen.
Er hatte es aufgebahrt.
Blut war dem Jungen aus der Nase gelaufen und die Wangen herab. Rungholt tastete den Hals ab, konnte jedoch keinen Herzschlag erfühlen. Der Junge war tot, sein Körper kalt.
Mit Bedacht begann Rungholt, den toten Leib auf die Seite zu drehen. Das Laken war lediglich am Kopf etwas blutverschmiert.
»Was hast du nur mit all den Jungen angestellt?«, flüsterte Rungholt laut zu sich. »Was hast du nur mit ihnen gemacht?«
Sanft schob er das Leinenhemdchen hoch. Es war verdreckt und ärmlich. Kein Blut am Rücken. Der Junge war nicht erstochen worden. Rungholt suchte den kleinen Leib nach tödlichen Verletzungen ab, aber das Einzige, was er fand, waren massive Kratzspuren. Genau wie Peterchen hatte der Junge sich an unzähligen Stellen die Haut aufgekratzt.
Im Kerzenschein konnte Rungholt es nur schlecht erkennen, doch es sah aus, als wäre der Junge von Flohbissen übersät, aber er fand in den Stellen keinerlei Einstich. Eigenartig.
Schließlich schob Rungholt dem Jungen den rechten Ärmel hoch, griff eine der Kerzen und leuchtete den Unterarm ab. Dieselben Striche, die Peterchen und Agnes aufwiesen. Runen? Was immer diese Striche zu bedeuten hatten, vom Kratzen stammten sie nicht.
Rungholt stand auf.
Die Schwere, die sich schon auf dem Weg zum Turm auf sein Gemüt gelegt hatte, kam zurück. Sie vertrieb die Aufregung ob eines nahenden Kampfes.
Nun hatte er die Gewissheit. Aus dem Holunder in seinem Geheimfach, aus Blüten eines Traumes waren Tatsachen geworden.
Der Schmied Gryps war der Kindesentführer. Er kannte nicht nur Agnes und Peterchen – er war auch für dieses tote Kind verantwortlich. Wo immer er die übrigen Kinder versteckt hatte, was immer er mit seinen Opfern anstellte, sie trugen alle die Linien, und sie starben.
Was sollte Rungholt nur tun?
Er sank noch einmal auf die Knie, zog den Leichnam zu sich her und wollte ihn hochheben. Er brauchte vier Versuche, um sich den Jungen über die Schulter zu legen und aufzustehen.
39
Vorsichtig glitt Rungholt in das heiße Wasser. Kaum war jedoch seine Wunde ganz im Zuber, musste er aufschreien. Die Hitze schmerzte in den Stellen, die im vernarbten Gewebe aufgerissen waren. Rungholt brauchte ein paar Atemzüge, um sich an die Temperatur zu gewöhnen. Er war völlig erfroren. Mit blauen Lippen und zitternd war er bei Swoneken eingekehrt und hatte sich erst hier erschöpft entkleidet, anstatt sich wie gewohnt zu Hause auszuziehen und nackt ins Badhaus zu gehen.
Er rieb sich etwas Öl auf die rechte Schulter, die vom Tragen wehtat. Sie war ganz steif, obwohl er mit dem toten Jungen auf dem kürzesten Weg zu seiner Brauerei geeilt war. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Jungen zu verbergen, hatte ihn lediglich, sobald sie im Freien waren, auf die zerstörte Turmhaube gehoben und ihn ganz ins Laken eingeschlagen.
Den Toten auf der Schulter, war er schnell die Rosengasse hinuntergehastet, durch die große Pfütze an der Gröpelgrube, die inzwischen tatsächlich einen Teil der Stadtmauer so weit unterspült hatte, dass sie eingestürzt war, und an der Mauer entlang bis in die Hundegasse.
Der Tote wog kaum mehr als ein Sack Rüben, aber Rungholt war körperliche Arbeit einfach nicht mehr gewohnt.
Er liegt auf meinem Schreibtisch, diesem Brett auf Backsteinen, dachte Rungholt. Immer liegen sie auf irgendwelchen Brettern und warten. Zeit spielt für den Jungen keine Rolle mehr. Für mich jedoch schon. Wenn die Sanduhr durchgelaufen ist, gehe ich.
Die Müdigkeit umschloss ihn wie ein warmes Moor. Sie griff sich seine Glieder und drohte ihn hinabzuziehen.
Weitere Kostenlose Bücher