Flutgrab
aufschneiden.«
Kerkring schüttelte halb tadelnd, halb belustigt den Kopf.
»Das andere Kind«, stieß er verächtlich aus. »Sagt bloß, Ihr habt einen toten Jungen versteckt. Ihr seid wahrlich der Teufel, Rungholt. Der Teufel.« Kerkring kam näher und zischte: »Niemals werde ich zulassen, dass Ihr Euch mit Euren Ketzerhänden an den Toten vergreift. Und was immer Ihr mir dafür auch anbietet. Ihr gehört in die Hölle. Nicht in diese Stadt.«
»Er stellt irgendwas mit den Kindern an! Kerkring, bitte. Ich weiß nicht, was er mit ihnen macht, aber sie haben alle ein Zeichen. Hier.« Rungholt deutete auf seinen rechten Unterarm. »Und sie sind alle krank. Agnes hat schwer gehustet, hat keine Luft mehr bekommen. Peterchens Körper war übersät mit kleinen Bläschen.«
Kerkring winkte ab. »Hört Euch reden, Rungholt. Es ist abscheulich.«
Als der Rychtevoghede sich abwandte, packte Rungholt – »Kerkring!« – den Mann am Arm. »Ich brauche auch Eure Männer. Selbst wenn ich herausfinde, wo sie versteckt sind, kann ich sie schlecht alleine retten.«
Kerkrings erboster Blick ließ Rungholt die Hand sogleich wegnehmen. Die Männer fixierten sich, sahen einander in die Augen. Und wieder musste Rungholt an zugefrorene Seen denken, an Tümpel voller gefrorener Seelen.
Er schluckte und setzte erneut an. »Ich bitte Euch, hört Ihr? Ich BITTE Euch, Kerkring.«
Die Miene des Rychtevoghede blieb unverändert. Die Zähne aufeinandergebissen, die Pausbacken gespannt, die Lippen zu einem Schlitz gepresst, blickte er auf Rungholt hinab.
Rungholt lehnte sich etwas vor und flüsterte: »Ich bitte Euch. Versteht Ihr das? Kerkring? Versteht Ihr das? Ich bitte Euch.«
Der Rychtevoghede lächelte. Er sagte kein Wort, sondern genoss einfach nur. Schließlich räusperte er sich und zauberte ein feistes Lächeln auf seine Lippen. »In Tote wollt Ihr blicken? Nun … vielleicht dürft Ihr«, meinte er streng. »Wenn Ihr mir die Füße küsst, Rungholt. Vielleicht sehe ich dann weg.«
Meinte dieser Muskopp, dieser Bangbüx von einem dreisten Ratsmann das ernst? Stille senkte sich über das Badhaus. Rungholt nahm das Getuschel, das Planschen und Tetzels und Brauns Stelldichein bloß noch gedämpft wahr. In seinem Kopf zuckten die Gedanken wie draußen die Blitze.
»Was?«, kam es leise über seine Lippen. »Was hast du Muskopp gesagt?«
Als habe Kerkring seine Frage gehört, stellte er als Antwort seinen Fuß auf das Brett. Dieses Mal stürzte die Sanduhr tatsächlich ins Wasser. Sie dümpelte vor Rungholts Bauch, während der erst stumm auf den Fuß, dann Kerkring anstarrte.
»Das meint Ihr nicht ernst.«
Als Antwort ließ Kerkring den Fuß, wo er war.
»Das meint Ihr nicht ernst«, hauchte Rungholt ein zweites Mal.
»Nun, ICH habe nicht um ein Wort gebeten und nicht darum …«, er beugte sich vertrauensvoll vor, »ein Sakrileg begehen zu dürfen, Rungholt … Sagt mir, wer der Entführer ist, und küsst mir die Füße.«
Das Brennen in Rungholts Augen kehrte zurück, aber er konnte den Blick nicht von Kerkring lassen, der die Lippen schon wieder zu einem feinen Lächeln verzog. Langsam atmete Rungholt ein. Und wieder aus … und wieder ein … Aus … Ein …
Für die Kinder. Tu es für die Kinder.
Er beugte sich vor, doch bevor seine Lippen Kerkrings Haut berührten, zog dieser mit einem dreckigen Lachen seinen Fuß weg.
»Ihr seid verachtenswert, Rungholt. Ihr tut es tatsächlich. Verachtenswert, Rungholt.« Polternd und feixend stieg Kerkring aus der Wanne. »Ihr habt keine Ehre im Leib. Keine Ehre. Was seid Ihr nur für ein Mann? Der Scheiterhaufen wäre nicht Strafe genug für Euch.«
Rungholt schnaufte. Der Grimm war so überwältigend, dass er sich mit aller Kraft zwingen musste, die Augen zu schließen und ruhig zu atmen.
Wo ist meine Gnippe? Ich werfe die Gnippe nach ihm. Ich steche ihm in den Hals. Und wenn er herumfährt, ein zweites Mal in die Augen. Rechts, links, rechts, links. Ich steche ihm die Augen aus und werfe sie ins Badewasser, du verkackter Bangbüx. Ich fresse dein Herz.
Einatmen, ausatmen …
Rungholt riss die Augen auf.
Vergossenes Blut trocknet nie.
Tu es nicht.
»Verachtenswert oder nicht, Muskopp«, schrie er Kerkring nach. »Helft Ihr mir nun?«
Doch Kerkring hatte bereits sein Tuch genommen und war hinter dem Abort verschwunden. »Helft mir«, rief Rungholt so laut, dass die anderen Gäste zusammenzuckten.
Das Letzte, was er von Kerkring sah, war dessen Schattenriss im Licht
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