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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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zeigten. Kathedralen, springende Pferde, Gesichter …
    Gesichter … War das Rungholt?
    »Ja. Ihr seht recht«, meinte die Alte flüsternd. »Es ist Rungholt.«
    Hatte Kerkring etwas gesagt? Er wusste es nicht, starrte bloß auf das Leinen und die Knochen. Alle Lichter – die Glut, Kerzen, Kienspäne –, sie schlierten, sobald er den Kopf neigte. Was geschah mit ihm?
    »Hier ist noch ein zweites Gesicht.« Mit ihrem Zeigefinger, der wie ein knorriger Ast aussah, deutete sie auf eine weitere Wolke.
    Der Mond schob sich schon hinter den schlanken Turm von St. Jakobi, als Marek endlich auf Agnes stieß. Zwei Gräber hatte er bereits ausgehoben, zumindest so weit, dass er in die Leichentücher schauen konnte.
    Der Böttcher Claas Meenkens hatte seiner Magd lediglich ein Totentuch gegönnt. Keinen Sarg. Immerhin war er so anständig gewesen, das Tuch nicht auch noch den Armen zu geben, sondern sie darin bestatten zu lassen. Der graue Stoff war jedoch an vielen Stellen voller Löcher. Es sah aus, als habe Meenkens einen alten Rübensack genommen.
    »Ich hoffe«, meinte Marek, »du und Sinje, ihr beide hättet mich nicht so bestattet.«
    »Ich wollt dich nackt ins Meer schmeißen.« Rungholt ließ sich den Spaten reichen und kratzte etwas Erde um das Leichentuch fort, dann ließ er sich von Marek in die Grube hinabhelfen und versank prompt bis zum halben Schienbein im Morast.
    »Du willst sie doch nicht etwa rausziehen, oder?«
    Rungholt schüttelte den Kopf. »Erst mal nicht, nein. Aber ich brauche Licht.« Er öffnete seinen Tappert und zog einen kleinen, aus Eisen und Ton geformten Behälter heraus. Vorsichtig öffnete er ihn. Darin hatte er glühenden Zunder in verschiedene Lagen Tuch eingeschlagen, sodass er noch Luft bekam, aber keine Feuchtigkeit ziehen konnte. Der mit Urin und Pottasche gebeizte Pilz konnte tagelang glühen. Mit Mareks Hilfe entfachte er eine Kerze an der Glut und schützte sie mit einem von Alheyds kostbaren Gläsern vor dem Regen.
    Marek zögerte, als Rungholt auf den Modder wies und ihn um eine Handvoll davon bat, doch dann tat er wie befohlen. Behutsam strich Rungholt das Glas mit dem Matsch ein, so fiel das Licht nur zu einer Seite. Aus Angst, jemand könne die Flamme in der stockfinsteren Nacht sehen, hielt er sie, so knapp es ging, über dem Leichentuch.
    Schlimm genug, dass er in seinem Keller, hinter den losen Backsteinen, ein Anatomiebuch eines arabischen Gelehrten verbarg – einen der dreißig Bände der sagenumwobenen Enzyklopädie Al-Tasrif Liman Ajiz’an Al-Ta’lif, die der Gelehrte Abulcasis als Hofarzt des Kalifen von Cordoba geschrieben hatte. Marek hatte das Buch in einem Novgoroder Hinterhof bei einem zwielichtigen Straßenhändler erworben. Aberhunderte Leichen musste Abulcasis aufgeschnitten haben, um derlei viele frevelhafte Anatomiezeichnungen zusammenzutragen. Für das Ausgraben einer Leiche war der Köpfelberg als Strafe sicherlich noch harmlos.
    Wenn er Pech hatte, würden Kerkring und sein Schöffengericht ihn auf dem Marktplatz in siedendem Öl baden.
    Rungholt schlug das Tuch beiseite. Während Marek sich stöhnend abwandte, ließ er sein Kerzenglas über das Gesicht der Toten und weiter hinabwandern.
    Ein dunkler Schemen war neben Rungholt zu erkennen, finsterer und bedrohlicher noch als Kerkrings Erzfeind.
    Eine Schattenfratze.
    »Allmächtiger!« Die Knochenfrau bekreuzigte sich. »Der Teufel. Der Teufel persönlich.«
    »Der Teufel?« Auch Kerkring schlug ein Kreuz. Er musste sich anstrengen, dem Schatten in die Augen zu blicken, doch er überwand seine Furcht.
    Die Alte beugte sich vor, als wollte sie am Leinen riechen, dann ließ sie sich von Kerkring den Kienspan geben und strich damit über die dunkle Asche. Sie kam ihr mit der Glut so nahe, dass sie an einigen Stellen kurz aufglomm, berührte sie aber nicht.
    »Was tut Ihr da?«
    »Das ist nicht gut«, raunte die Alte. »Nicht gut.«
    »Was machen Rungholt und der Teufel da? Was … Was haben denn die Knochen zu bedeuten?«
    »Nicht gut ist, was ich sehe.«
    »Was siehst du, Töversche?« Sein Schädel dröhnte, und ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. »Was macht er da? Ich meine Rungholt?«
    »Er küsst. Er küsst, Kerkring. Rungholt küsst den Teufel. Seht Ihr es nicht?«
    Tatsächlich.
    »Und die Knochen. Sie sprechen von Unheil. Seht Ihr. Das ist eine Rune. Sie bilden die alten Zeichen der Wikinger. Sie sprechen mit der Zunge der Barbaren. Es sind Zeichen aus der dunklen Zeit, Herr.

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