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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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in die Pfütze. Fassungslos sah Marek ihm zu.
    »Wie viel war das?«
    »Zwanzig Witten, sieben Drei-Pfennigstücke, acht Sechser. Glaub ich.«
    Das musste man Marek nicht zweimal sagen. Hundertneunundvierzig Pfennige, das war der Dreimonatslohn eines Erdarbeiters. Bevor die Preise explodiert waren, hätte er davon vierzig Mal ins Gasthaus gehen können. Sofort bückte er sich und begann, den Grund der Pfütze abzutasten.
    »Wenn du gräbst, findest du bestimmt alle«, meinte Rungholt lachend.
    Ihre Augen waren Eispfützen. Im Qualm des Stechapfels wirkten sie wie blind. Erst als die Alte sich der verzierten Schale zuwandte, in der die getrockneten Blüten verschmorten, bekamen sie einen stumpfen Glanz.
    Lebendiger wurde ihr Blick jedoch nicht. Vielmehr starrte sie erst ihre Räuchergabe an, dann durch Kerkring hindurch, so abwesend und kalt, dass der Rychtevoghede sich verwirrt umsah, ob nicht noch jemand in die Stavengasse gekommen war. Doch niemand lehnte hinter ihm am Baumstumpf, der mit seinen beinahe anderthalb Klaftern eine Seite des Verschlags bildete. Ein toter Stubben, in den die Alte zwei Erbärmebilder gehängt hatte. Sicher gestohlen aus irgendeiner Kapelle. Die Jesusbilder waren mit geschwungenen, eingeritzten Zeichen umrahmt … Oder nein. Das waren die Umrisse dutzender Gesichter, die auf den Sohn Gottes sahen.
    »Der arme Sebastian. Heilig, heilig. Beschützt die Armbruster«, erklärte sie. Obwohl sie ihre Arme kaum noch bewegen konnte, bekreuzigte sie sich. »Der heilige Sebastian wacht über ihn. Gott sei meinem letzten Sohn gnädig.«
    Kerkring nickte schwach und schob sich durch den Qualm des Stechapfels zu ihr vor. Ihr gerissenes Surkot, seit Monaten getragen, stank nach Kot. Er hatte keine Muße, sich mehr Geschichten von der Greisin anzuhören, schließlich war er wegen etwas anderem hergekommen. »Die heilige Afra. Schutzpatronin reuiger Hübschlerinnen.« Sie kicherte hustend und spuckte durch ihre wenigen dunklen Zahnstumpen auf den Boden. »Reuige Dirnen. Seid Ihr auch eine reuige Hure, Richter?«
    »Ich bin nicht zum Schwatzen gekommen, Weib.«
    »War ein guter Junge, mein Letzter. Sieben Pfeile. Hals, Kopf und Seite. In der Schlacht bei Bornhöved.«
    Kerkring zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Bornhöved? Die Schlacht war seit hundertsiebzig Jahren geschlagen. Die Alte konnte nicht ihren Sohn meinen? Oder …? Konnte ein Mensch so alt werden? Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Auf seinen Gehstock gestützt, tastete er sich zu ihr vor, setzte den Stab zwischen Rattenlöcher, Taubenfedern und allerlei Schalen, die in einem Muster über den feuchten Boden verteilt standen.
    Der Qualm stach ihm in den Augen und brannte in der Kehle. Er bekam kaum Luft. Sein Herz begann zu rasen.
    »Nun sagt schon. Was sagen die Knochen?«
    »Nicht so ungeduldig. Das Ritual erfordert Zeit.« Die Alte kniete sich hin und holte aus einem Ledersäckchen einige Hühnerknochen. Sie waren vollkommen blank und schon oft benutzt worden. Kerkring sollte ihr den Teller mit der Stechapfelasche reichen. Er tat es nur widerwillig und sah dann stumm zu, wie sie die Asche auf einem Leinentuch verteilte. Sie hatte es auf den nassen Boden gelegt, und die Asche sog durch das Tuch hindurch sofort das Wasser auf.
    Dunkle Flecken, ein Wolkenmuster bildete sich. Zufrieden betrachtete die Greisin ihr Werk, dann rutschte sie auf den Knien um das Tuch herum und warf mit großer Geste die Knochen.
    Kerkring dachte, sie werde sofort losplappern, werde ihm sofort seine dringendste Frage beantworten können, doch die Greisin starrte die Knochen auf dem Wolkenmuster lediglich stumm an.
    Da waren sie wieder. Ihre Eisaugen.
    »Was seht Ihr?«
    »Ssssssshtttt … Es muss sich erst verbinden.«
    Mit einer Mischung aus Neugierde und Abscheu trat Kerkring näher. Sein Herz schlug noch immer wild, und er hatte das Gefühl, zu viel gesoffen zu haben. Der Stechapfelrauch vernebelte seine Gedanken. Er riss einen Kienspan aus dem Matschboden und leuchtete durch den Dunst. Im Schein der Glut breitete sich die Feuchtigkeit mehr und mehr aus. Alles war Kerkring jetzt verzerrt und hässlich. Die dunkleren Flecken krochen um die Knochen und bildeten schließlich ein Muster. Das war ein großes Gesicht auf diesem Tuch – eine Fratze.
    Letzten Sommer hatte er mit seinen zwei Kindern einen Nachmittag am Hafen verbracht. Während sie auf ihren Holzhändler warteten, hatten sie in den Himmel geschaut und sich überlegt, was die Wolken wohl

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