Flutgrab
Zeichen, die tausend Jahre alt sind.«
»Dunklen Zeit …?«, keuchte Kerkring und spürte, wie ihm die Säfte wegsackten. Er wandte sich ab, um sich zu übergeben. Fluchend und nach Luft japsend wischte er sich den Mund. Dieser verfluchte Qualm.
»Ihr reinigt Euch, das ist gut«, stellte die Alte fest.
»Was für eine dunkle Zeit?«
»Die Zeit, als die Menschen noch Tiere waren und sich gegenseitig fraßen. Die Zeit ohne Gott, ohne Jesus. Sie sprechen in der alten Sprache der Ungläubigen. Das ist ein schlechtes Zeichen.«
»Und was sagen sie, die Knochen?«
»Das ist lagu. Das Zeichen für Meer, das Zeichen für das Allwissende. Und dies thurisaz. Die Abwehr, der Riese.«
»Und das?«
»Dagaz. Die Dämmerung.«
Kerkring sah sie fragend an.
»Tut es nicht.«
»Was?«
»Das ist die Antwort auf Eure Frage. Rungholt steht mit dem Teufel im Bunde. Er lässt sich von ihm begatten. Sie küssen sich schon, und später werden sie das Bett teilen! Rungholt ist des Teufels, Kerkring. Und die Runen sagen: Ihr könnt den Riesen nur abwehren, wenn Ihr Euren Blick nicht trüben lasst.«
Kerkring nickte.
»Ihr dürft Rungholt auf keinen Fall einweihen.«
»Manchmal tut das Böse Gutes.«
»Manchmal.«
»Ich soll nicht mit ihm die Kinder suchen? Er weiß vielleicht einiges. Und er kann gut Spuren lesen, die …«
Die Hexe schüttelte sich. »Schweigt!« Schreiend hieb sie mit dem Kienspan auf die Asche ein. »Schweigt! Öffnet ihm nicht Eure Tür. Dem Teufel darf niemand die Hand reichen. Sonst seid auch Ihr des Teufels.«
Mit einer plötzlichen Bewegung packte sie Kerkrings Hand und zog ihn zu sich her. Beinahe wäre er über seinen Stock auf das Leinen gefallen. Ihre Hand war kalt und rau wie eine Raspel. Ihre langen Fingernägel gruben sich in seine Haut. »Rungholt wird betteln. Er wird flehen. Er wird Euch in Seelennot stürzen, aber Ihr dürft des Teufels Geliebtem nicht die Hand geben. Niemals. Dieser Rungholt ist der Diener des Teufels, und er wird Euch die Hand abfressen, wenn Ihr sie ihm reicht.«
Ein letztes Mal fiel Kerkrings Blick auf die Schattengestalten, die durch die Attacke der Alten jetzt noch grotesker verformt waren. Er schluckte. Der bittere Geschmack seiner Kotze wollte nicht vergehen.
Es war tatsächlich der Teufel, der ihm als Schatten entgegengrinste und seine lange Zunge in Rungholts Mund steckte.
Abartig.
Was die letzten drei Tage mit Agnes angestellt hatten, war erstaunlich. Ihre Haut war marmorn geworden und schimmerte in einem Regenbogen aus Farben. Blau, Rot, Violett, Gelb, Grau … Ihr Leib war nicht mehr steif. Ein Zeichen dafür, dass Gott bereits über sie gerichtet hatte. Am Hals und am Bauch war ihr Körper ein wenig aufgedunsen.
Rungholt zog Agnes’ rechten Arm unter dem Tuch hervor.
»Halt mal«, forderte er Marek auf und reichte ihm die Kerze. Mareks Hand zitterte so stark, dass Rungholt sie mehrmals wieder zur Leiche hinabdrücken musste. Im Kerzenschein musterte Rungholt nun noch einmal Agnes’ Arm, während sich Marek auf die Stiefel kotzte.
Durch die Verfärbung der Haut war nichts mehr zu erkennen, oder doch …? Sacht drehte er ihren Arm im spärlichen Licht hin und her. Da! Da waren sie …
Rungholt musste lächeln. »Sie kommt auf meinen Dachboden. Dafür kommt sie an den Balken.«
»Was siehst du?«
»Warte …« Rungholt kontrollierte ein letztes Mal, ob er sich nicht irrte. Nein. »Es sind die gleichen wie bei Peterchen. Ich wusste doch, dass ich sie schon mal gesehen habe.« Er drehte den Arm so zu Marek, dass der bessere Sicht darauf hatte.
»Was ist das? Striemen?«
Tatsächlich schimmerten durch das Farbenspiel drei feine Linien. Nicht dicker als ein Stylus.
»Das weiß ich noch nicht genau. Aber die gleichen Striemen hatte auch Peterchen.«
Überrascht kratzte sich Marek am Arm. »Also war sie dort, wo auch Peterchen war?«
»Das denke ich. Ja. Wahrscheinlich wurde sie entführt.« Rungholt wischte seine Hand an seinem Tappert ab und zückte die Wachstafeln. Er wollte seine Brille aufsetzen, fand sie aber nicht. Wie so oft hatte er sie wohl zu Hause liegen gelassen.
Einmal mit der Nase tief über Agnes’ Arm, einmal über dem Wachs. Hin und her. Nervös sah Marek zu, wie Rungholt die Linien nachzeichnete. Für seinen Geschmack standen sie schon viel zu lange in diesem offenen Grab. Immer wieder blickte er über die Schulter zum Hospital. Doch in der Dunkelheit und durch den Regenschleier hätte er wahrscheinlich nicht mal eine Kogge
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