Flutgrab
Blick hielt ihn auf. Schnell steckte er alle Münzen ein.
»Hier. Vergiss die nicht.« Rungholt warf Marek eine der dreckigen Gugeln zu und streifte sich ebenfalls eine über.
»Widerlich«, war Mareks einziger Kommentar, doch er zwängte sich ergeben in seine Kapuze und half Rungholt über die hüfthohe Friedhofsmauer.
Blass wie entfernte Sterne funkelte das Kerzenlicht durch die prunkvollen Fenster der Kirche des Heilig-Geist-Hospitals, drang durch den Regen zu Rungholt und Marek und versickerte glitzernd in der Nacht. Obwohl es Hunderte waren, vermochte ihr Schein kaum die Schatten des Armenfriedhofs zu erhellen. Die Kirche war direkt ans Langhaus mit den Siechenden gebaut, damit sie von ihren Betten den Andachten lauschen konnten. Viele Lübecker hatten für ihre Verstorbenen in der Kirche Andachtslichter entzündet.
Die dunklen Gugeln tief in die Stirn gezogen, schlichen die beiden durch den Morast. Was einst gepflegte letzte Ruhestätten waren, glich nun einem zerfurchten Acker. Jegliches Grün war hinfortgespült oder durch das ewige Ausheben neuer Gräber zerstört worden.
Das Wasser bahnte sich in verästelten Rinnsalen einen Weg über die Toten hinweg oder direkt durch ihre Gebeine. Auf der Nordseite, unweit der Feldsteinmauer, hatte es sich so tief eingegraben, dass zwei Leichen freigespült worden waren.
Ihr Anblick ließ Marek erschaudern, und er bekreuzigte sich. »Drei Witten … Das Zehnfache sollt ich kriegen.«
»Sei still, du dänischer Gierschlund.«
Sie hatten keine Lampen entfacht, um nicht gesehen zu werden. Das erste Mal verfluchte Rungholt nicht den Regen, denn er bot Schutz vor neugierigen Blicken.
»Sie muss da drüben liegen, wenn Gallberg kein Seemannsgarn erzählt hat. Was ein Glück, dass der Rat immer noch keine Massengräber ausheben lässt.«
»Das hätte noch gefehlt«, stöhnte Marek und stieß mit seinem Stiefel prompt gegen einen Oberarm, der aus dem Morast ragte.
»Wahrscheinlich Schweine. Oder ein Fuchs. Sie haben sich die Knochen aus dem Schlamm geholt.«
»Wie überaus tröstlich.« Marek stolperte weiter, vor lauter Bekreuzigen wusste er nicht, wie er Spaten und Schaufel halten sollte. Rungholt packte ihn schließlich und zog ihn hinter sich her.
Wenig später waren sie an der östlichsten Ecke des Friedhofs angelangt und standen vor einer großen Pfütze.
»Irgendwo hier muss es sein.«
Von den vier Gräbern, die Gallberg erwähnt hatte, war keine Spur zu sehen. Nach dem Umtrunk mit Marek zwischen den Fäden und einer wässrigen Suppe war Rungholt noch einmal ins Heilig-Geist-Hospital gegangen und hatte sich wie beiläufig nach Agnes erkundigt. Gallberg hatte keinen Verdacht geschöpft.
»Warte.« Rungholt zog Trippen und Stiefel aus und watete barfuß ins Nass. Zu seinem Erstaunen war es warm. Und es widerte ihn an, das Wasser und vor allem der Morast darunter. Er hatte das untrügliche Gefühl, in die Brustkörbe aufgeblähter Toter zu treten. »Argh. Komm schon«, murrte er und langte ins Wasser.
»Was treibst du denn da?«
Endlich schien er etwas gefunden zu haben, denn er lächelte. Wenig später rief er Marek zu sich, und zu zweit hoben sie einen flachen, grauen Feldstein aus dem Wasser.
»Gallberg packt seit neuestem Steine auf die Gräber. Ans Kopfende.«
»Statt Kreuze?«
Rungholt nickte. »Die sind ihm ausgegangen. Er hat kein schönes Holz mehr und will keine Äste nehmen.«
»Hm. Dann liegt hier also die Agnes. So rum?« Marek wies vom Stein abwärts in die Pfütze. »Oder so rum?« Er zeigte Richtung Hospital.
»Woher soll ich das wissen? Grab eben hier und hier. Und wenn du Pech hast, dann auch hier und hier und hier.« Rungholt schritt kreuz und quer die Pfütze ab. »Es sind vier Gräber. Gallberg wusste nicht mehr genau.«
»Aber …«
»Nichts aber. Du hast gesagt, du hilfst mir. Also. Dafür bezahl ich dich. Nicht pro Loch. Hör endlich auf, wie diese verfluchten Handwerker zu feilschen!«
Marek steckte den Spaten in die Erde und stützte sich darauf.
»Jetzt grab!«
Marek rührte sich nicht.
»Du blöder Schone. Jetzt pack die Schaufel und leg endlich los.«
»Einen Teufel werd ich.«
»Du hilfst mir jetzt, oder …«
»Oder was?«
»Oder … ich bezahle dich noch mal! Verdammt noch eins!«
»Ich soll eine Tote ausgraben? So was kannst du nicht bezahlen.«
»Alles kann man bezahlen, du törichter Däne.« Wütend riss Rungholt einen zweiten Beutel von seinem Gürtel, öffnete ihn und streute mit einem Mal alle Münzen
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