Flutgrab
Stadtmauer. Bloß eine Armlänge unterhalb der Brücke strömte er in unbändiger Kraft.
Sie hatten zwei Drittel der Brücke genommen, als Marek vor Schreck aufschrie.
Keine fünf Klafter von sich entfernt sah er eine gewaltige Gestalt im grauen Travewasser. Ein riesenhafter Schatten glitt in den Wellen des Flusses direkt auf die Brücke zu. Der Schemen war größer als der Ochsenkarren und bewegte sich träge. Mit einem Mal schoss ein Wasserstrahl aus den Fluten, schoss kerzengerade hoch und klatschte gegen die Seite des Wagens. Dann tauchte der matt glänzende Rücken eines Fisches, groß wie eine Hauswand, neben ihnen auf.
Marek schrie. Er spürte einen Ruck, die Ochsen blökten, und ehe er es sich versah, begannen die Tiere auszubrechen. Was immer dort im Wasser an der Brücke lag, es hatte sie zu Tode erschreckt. Marek konnte nicht sagen, ob der Schiffbauer dieses Tier vom Bock aus gesehen hatte, aber er hörte den Mann seine Ochsen anschreien. Panisch versuchte er, sie zu beruhigen, doch sie legten sich nur noch mehr ins Joch, und der Wagen preschte voran, schlingerte, gewann an Fahrt.
Marek klammerte sich hartnäckig fest. Am Ende der Brücke, vor dem schlichten Äußeren Tor, raste der Wagen auf einen schmalen, improvisierten Steg zu. Die Trave war hier über die Ufer getreten, hatte ein Stück Brücke und Land überflutet. Um über diesen Strom zu kommen, hatten die Lübecker Bohlen auf Steine gepackt. Im Schritttempo war es kein Problem, Pferde, Ochsen und auch Karren und Wagen trocken von der Brücke über diesen Steg an Land zu bringen, doch in voller Fahrt …
Abermals schrie Marek auf, als der Karren mit einem Krachen wegrutschte. Der Kapitän verlor den Halt, glitt in die eiskalte Strömung. Das Travewasser umschloss ihn jäh. Der hüfthohe Strom riss ihn zur Seite, zog ihn unter das rechte Hinterrad, das noch immer durch die Flut schnitt und …
Verzweifelt reckte Marek die Arme zum Wagenboden, schluckte Wasser und spürte die Bretter unter seinen Fingerkuppen davongleiten. Die Holzscheibe des Rads schoss auf ihn zu. Groß wie ein Mühlrad pflügte das mit Pech beschmierte Ding durch den Strom.
Es war das Letzte, was er sah, bevor das Rad seine Brust traf, ihm die Husse wegriss und ihn unter Wasser drückte.
35
Rungholt hielt sich den Mund zu. Der Drang zu husten war übermächtig. Er packte seine Kehle und drückte, rieb und kratzte im Dunkeln, während Michels’ Schritte lauter und lauter wurden. Rungholt musste würgen, verfolgte durch den Türspalt, wie der Knecht mit einer Fackel heraufkam. Das rote Licht fiel kurz in die Kammer, blendete ihn, und einen Moment packte Rungholt die Angst, der Mann trete ein. Doch da glitt der Feuerschein bereits vorbei.
Kurz darauf hörte Rungholt, wie Michels die Leiter zum Dachboden anlegte. Dann fiel eine Luke zur Seite, und der Junge war irgendwo über Rungholt.
Der öffnete sofort den Alkoven und hustete. Über ihm knarzten Michels’ Schritte. Durch die Deckenbretter fielen Spelzen, als Michels über der Kammer entlangging und auf dem ersten Dachboden nach den Säcken suchte.
Rungholt zögerte nicht. Er glitt aus dem Bett, riss Decke und Kissen heraus, nahm sich den Hanfsack, zog auch ihn einfach aus dem Schrank und schleuderte ihn hinter sich durch die Kammertür.
Unerkannt würde er hier sowieso nicht mehr herauskommen.
Seine verbundene Hand glitt hastig über die blanken Bretter, auf denen Agnes geschlafen hatte. Da. Eines wackelte. Er konnte sein Schwert an einem Astloch einhaken und es anheben. Im dunklen Schrankraum unter dem Bett gab es keinen Stauraum, nur der nackte Boden war zu sehen. Hier war nichts versteckt. Rungholt schreckte lediglich zwei Mäuse auf, die ihr Nest unter dem Bett gebaut hatten und quietschend in einer Ritze verschwanden. Er hatte fest damit gerechnet, etwas unter dem Bett, aber …
»Verdammter Dreck«, knurrte er leise, war kurz davor, mit dem Brett die ollen Schranktüren abzuschlagen, die ihm ständig im Wege waren.
Der Spelzenregen hatte aufgehört. Die Füße klackerten Richtung Luke.
Tu was … Tu doch was …
Das Blut rauschte in seinen Ohren, der Herzschlag schmerzte. Rungholt sah sich um. Decke und Kissen lagen verstreut, der Hanfsack keine zwei Klafter von der Leiter entfernt. Das alles einzuräumen war …
Weg!
Renn los.
Rungholt warf das Brett zurück in den Alkoven, steckte das Schwert zurück. Er drehte sich um und wollte loslaufen, blieb jedoch wie angewurzelt stehen.
Das Brett.
Es war mit
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