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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
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Raumes blickten wir in dreißig Schüleraugenpaare, die erfüllt waren von nichts als blindem Hass. Damit alleine hätte ich
     fünfundvierzig Minuten lang leben können, denn aus meiner eigenen Schulzeit war ich Ablehnung durch meine Mitschüler gewohnt.
     Allerdings waren da auch noch die halbautomatischen Waffen, die Pump-Guns und die Schrotflinten, die auf meine Studienkollegin
     und mich gerichtet waren. Und erst jetzt fiel mir auf, dass alle Jugendlichen in schwarze Trenchcoats gewandet waren.
    Wir wollten umgehend umkehren, aber der Weg zurück wurde uns bereits von Schülern verstellt. Hilfesuchend hielt ich nach der
     Lehrerin Ausschau. Doch die war an die Tafel gefesselt, in ihrem Mund befanden sich Rohrbomben. Sie würde uns keine Unterstützung
     gewähren können. Auf dem Lehrertisch erblickte ich den Rohrstock. Als früherer Kendo-Kämpfer konnte so ein Stab in meinen
     Händen immer noch zu einer tödlichen Waffe werden. Aber leider war er nicht in meiner Reichweite. Was hatten die |70| Schüler mit uns vor? Uns foltern? Oder uns umbringen? Wenn ja, genügte ihnen dann nicht vielleicht ein Opfer? Zum Beispiel
     Nadine? Denn sie hatte den Lehrerhabitus allemal stärker verinnerlicht als ich. So legte sie beispielsweise beim Essen in
     der Mensa immer Schlüssel und Portemonnaie neben ihren Teller aufs Tablett. Lehrertypischer ging es kaum.
    Ein Junge, womöglich der Klassensprecher, ergriff das Wort: «Wir haben gehört, dass heute Studenten zu uns kommen, die Lehrer
     werden wollen. Seid ihr das?»
    Sie waren also auf unser Erscheinen vorbereitet. Ich musste ihren Verdacht irgendwie zerstreuen: «Das stimmt! Es kommen tatsächlich
     welche zum Hospitieren. Die hier, das ist so eine.» Ich zeigte auf Nadine. «Ich hab sie hergebracht. Ich bin Stephan, euer
     neuer Mitschüler.»
    «Aber du siehst so alt aus. Wie über zwanzig», argwöhnte der Wortführer misstrauisch.
    Unter anderen Umständen hätte mich solch eine Bemerkung verletzt, denn ich war praktisch gar nicht über zwanzig, sondern gerade
     mal einundzwanzig. Und in der Regel wurde ich sogar auf neunzehn geschätzt, was mich ziemlich mit Stolz erfüllte. Aber in
     diesem Moment hatte ich keine Zeit für Selbstmitleid und Eitelkeit. Ich blieb konzentriert: «Ich bin oft sitzen geblieben.
     Diesmal sogar bereits mitten im Schuljahr. Deswegen komme ich schon nach den Herbstferien zu euch.» Ich spürte, wie unter
     den meisten Schülern die Feindschaft in Respekt, ja, sogar Bewunderung umschlug. Ich schien kurz davor, zum neuen Boss der
     Klasse berufen zu werden. Doch ich hatte die Rechnung ohne den Jungen gemacht, der bisher das Wort geführt hatte. Er fürchtete
     offenbar, dass ich ihm seine herausgehobene Stellung streitig machte:
    «Dann nenn uns das Codeword!»
    «Was für ein Codeword?» Meine eben noch aufblühende Zuversicht drohte augenblicklich wieder zu verwelken.
    |72| «Dafür, dass du ein Schüler bist.»
    Mir fiel lediglich ein Begriff ein, der meiner Erinnerung nach schülersprachkommensurabel war. Ein Ausdruck, den wir damals
     ständig benutzt hatten: «Auf jeden!» Doch es war die falsche Losung, worauf mich mein Widersacher unmissverständlich hinwies:
    «Wird seit 1997, seit zwei Jahren, nicht mehr verwendet.» Ich hatte mir mit dieser Äußerung mein eigenes Grab geschaufelt.
     «Du bist also doch ein Student, du Lügner! Das wirst du bitter bereuen.»
    Ich wurde zur Lehrerin an die Tafel gebunden, zusammen mit Nadine. Unsere Münder knebelte man ebenfalls mit Rohrbomben. Danach
     wurde gezündet. Ich versuchte, den Sprengsatz auszuspucken. Es gelang mir nicht. Ich versuchte zu schreien. Doch niemand,
     der mir hätte helfen können, hörte mein wehrloses Grunzen. Und der Countdown meines Lebens tickte unaufhörlich: 10   –   9   –   8   –   7   –   6   –   5   –   4   –   3   –   2   –   1 – dann klingelte es zur Pause. Und ich erwachte schweißgebadet.
    Dieser Albtraum quälte mich wochenlang jede Nacht. Und alles wegen eines läppischen Hospitationspraktikums. Dabei waren es
     bis dahin noch Monate. Und bis zum Ende meines Studiums und dem Beginn des Referendariats Jahre. Ich hatte mich gerade erst
     gegen die Vorbehalte meiner Eltern für das Lehramt entschieden. Doch da wusste ich noch nicht, dass kurz darauf der 20.   April 1999 kommen würde – Littleton. Da war mir nicht klar gewesen, wie lebensgefährlich dieser Beruf sein kann. Umso mehr
     überraschte es mich dann später

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