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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
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im Praktikum, wie friedlich die Jugendlichen waren. Nur einer unserer Kommilitonen wurde während
     dieser Zeit überhaupt körperlich angegriffen. Nachdem ihm, ohne dass er es selbst bemerkte, ein Taschentuch zu Boden gefallen
     war, erhielt er eine Backpfeife, von einem Lehrer der Schule. Der hatte ihn für einen Schüler gehalten.
    |73| Raum 020, Dienstag, 12.34   Uhr, 5.   Stunde, Geschichte 9b
    Ich: Seid bitte morgen alle pünktlich! Denn da kommen meine Ausbilder.
    Mirsat: Was machen die?
    Ich: Die schaun sich den Unterricht an.
    Nico: Kriegen wir eine Note?
    Ich: Nee! Es geht um mich. Die wollen mich als Lehrer beurteilen.
    Karol: Dit versau ick Ihnen. Da stör ick die ganze Zeit.

|74| 11
Staubige Stretchjeans strecken stahlblaue Stretchjeansstrümpfe
    Jugendliche aus bildungsfernen Schichten zu unterrichten, mag hin und wieder wegen der höheren Gewaltproblematik an Schulen
     in sozial schwierigeren Umfeldern für das eigene Leben bedrohlich sein, hat aber auch unbestreitbare Vorteile. In den Augen
     meiner Schüler gelte ich zum Beispiel als Universalgelehrter. Niemand von ihnen würde annehmen, mein Wissen sei begrenzt.
     Das ist in meinem Freundeskreis anders. Dort werden meine Kenntnisse permanent angezweifelt. Meiner 9b gegenüber habe ich
     es deutlich leichter. Nie würde die Klasse, in der ich Geschichte unterrichte, auf die Idee kommen, meine Kompetenzen zu hinterfragen.
    Als ich Mirsat während einer Hofpause erzählte, dass ich mir die 9b demnächst wegen einer Lehrprobe auch mal für ein paar
     Französischstunden ausleihen werde, kam mein albanischer Schüler aus dem Staunen nicht heraus.
    «Können Sie alle Schulfächer?» Seine neugierigen, aufgeweckten braunen Augen schauten mich beeindruckt an.
    Ich überlegte einen Moment, wie ich auf seine Frage antworten sollte: «Ja, Mirsat. Ich kann alle Fächer.»
    «Krass! Wissen Sie alles?»
    «Ja, alles, was es auf der Welt gibt.»
    «Cool!»
    Aufgeregt stürmte er davon, um seinen Klassenkameraden von unserem Gespräch zu berichten. Erwachsene würden Aussagen |75| dieser Art natürlich mit Misstrauen begegnen und sie sofort auf ihre Gültigkeit überprüfen. «Soso! Du weißt also alles. Dann
     nenne mir bitte Charakteristika von schizoiden Persönlichkeitsstörungen in sozialen Interaktionen und setze sie zu dem Verstärker-Verlust-Konzept
     von Lewinsohn in Beziehung!» Oder: «Wer war 1939 in der brasilianischen Stadt Feira de Santana Senator für Stadtentwicklung?»
     Oder: «Übersetze bitte folgenden Satz ins Lateinische: Vitamin B12 tritt im menschlichen Körper als organometallische Verbindung
     mit einer Kobalt-Kohlenstoff-Bindung auf: ein Kobalt-Atom, das in der Mitte eines Ringsystems (Corrin-Ring) sitzt, ist entweder
     mit einer Methylgruppe, einem Cyanidion oder mit dem 5’-Kohlenstoff von Desoxyadenosin verknüpft.»
    Eine solche Übersetzung gelänge mir auf die Schnelle natürlich nur sehr approximativ. Die 9b, aber ebenso meine anderen Klassen
     – die 8c und die 10a – machen es mir da leichter. Die haben nie etwas von schizoiden Persönlichkeitsstörungen gehört, weshalb
     auch niemand an ihnen leidet. Einmal hat sich Mahmoud aus der Zehnten allerdings für Brasilien interessiert. Er bat mich,
     es ihm auf der Weltkarte zu zeigen, da er in der sich anschließenden Erdkundestunde ein Referat über dieses Land halten sollte.
     Selbst bei einer anspruchsvolleren Frage wie: «Woraus besteht Wasser?» würden sie von mir keine genaue Formel erwarten. Sie
     würden sich mit einem lapidaren «Das weiß niemand so genau. Wahrscheinlich aus Flüssigkeit und Schmutz» zufriedengeben.
    Meine Französischkenntnisse wies ich meiner neunten Klasse bereits zur vollsten Zufriedenheit nach, bevor ich sie in diesem
     Fach überhaupt das erste Mal unterrichtete:
    «Können Sie perfekt Französisch, Herr Serin?», erkundigten sich die Schüler zu Beginn der nächsten Geschichtsstunde, nachdem
     sie von Mirsat über meine Lehrprobenabsicht in Kenntnis gesetzt worden waren.
    «Worauf ihr einen lassen könnt!»
    |76| «Sagen Sie mal was!», bat mich Karol.
    « Adieu! »
    «Was heißt das auf Deutsch?»
    «Adieu!»
    Sie kannten den Begriff nicht, was mich noch mehr aufwertete, denn ich wusste somit französische Vokabeln, von denen ihnen
     nicht einmal die deutsche Übersetzung geläufig war.
    «Krass! Kennen Sie weitere Wörter? Wissen Sie auch, was Schnee heißt!»
    «Natürlich! Der Schnee heißt
la neige

    «Krass! Sie wissen ja wirklich

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