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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
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verlassen.
    Ich: Der war aber schon dreckig, als ich reingekommen bin.
    Frau Baum: Herr Serin! Dann müssen Sie das dem Kollegen sagen, der vor Ihnen drin war. Soll ich jetzt alle abklappern, die in der Woche
     vor mir drin waren? Ich denke, Sie wissen selber, dass Sie eine Verantwortung haben. Auch wenn Sie neu sind. Wie soll denn
     unsere Schule aussehen?

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Gymnasium oder Türkei
    Elternsprechtage können praktisch nichts Gutes verheißen, denn Eltern halten Lehrer in der Regel für schlechte Menschen, die
     ihren Kindern nur Böses wollen. Davon war ich fest überzeugt. So war ich auch ausgesprochen erleichtert, als ich am Dienstag
     nach Unterrichtsschluss noch immer keinen Namen auf meinem Aushang am Schwarzen Brett der Schule vorfand. «Frau Witt», sagte
     ich, als ich bei der stellvertretenden Schulleiterin vorstellig wurde, «bei mir hat sich niemand für den Elternsprechtag eingetragen.
     Da muss ich doch nicht extra kommen. Oder?» – «Kommen Sie mal trotzdem! Viele Eltern entscheiden sich erst spontan.» Und schon
     war mein kurzes Stimmungshoch verflogen.
    Entsprechend bedient nahm ich um 17   Uhr im mir zugewiesenen Raum 103   Platz. Ganz hinten, vor den breiten, die ganze Rückseite des Klassenzimmers ausfüllenden buchenfurnierten Spanplattenschränken
     richtete ich mich ein, damit Besucher zunächst an den fünf Sitzreihen vorbeimussten und ich mich mental auf sie einstellen
     konnte. Ich schob mir zwei Zweiertische zusammen, einen für mich und einen für die Eltern. Auch wenn ich natürlich inständig
     hoffte, dass Mütter wie auch Väter sich nicht bei mir blicken ließen. Denn wenn sie sich freiwillig zu einem Lehrer bemühten,
     dann doch wohl, um sich zu beschweren. Das wusste ich von meinen eigenen Eltern. Die hatten sich immer nur zu Elternsprechtagen
     begeben, wenn sie meinten, ich sei von einem Lehrer ungerecht behandelt worden. Aber genau diesen Eindruck dürften viele Erziehungsberechtigte
     der Schüler meiner 8c seit kurzem haben.
    |63| Mir war der dämliche Anfängerfehler unterlaufen, den ersten Geschichtstest vor dem Elternsprechtag zurückzugeben. Dieser war
     mit zwölf Fünfen und zwei Sechsen so schlecht ausgefallen, dass er mich im Handumdrehen in den unbeliebtesten Lehrer der Klasse
     verwandelte. Zuvor war ich bei meinen Schülern wegen meiner lockeren Art und meines Hip-Hop-Wissens noch der Lieblingslehrer
     gewesen. Dabei traf mich am Sympathiesturz keine Schuld. Der Klasse war eine ganze Stunde zur Vorbereitung zugestanden worden,
     welche diese nicht genutzt, sondern verquatscht hatte. Die Schüler wussten: Sie hatten nicht gelernt. Manche wären aber auch
     durch Lernen nicht zu besseren Ergebnissen gekommen, da sie weder über die hinreichende Lesekompetenz verfügten, um meine
     Aufgaben zu verstehen, noch über ein Mindestmaß an Schreibkompetenz, um diese zu lösen.
    «Ihr Kind hat nicht gelernt», das konnte ich aufgebrachten Müttern und Vätern vielleicht entgegenhalten, aber nicht: «Ihr
     Kind kann nicht lesen und nicht schreiben.» Unweigerlich hätte eine solche Bemerkung zu einer der folgenden Diagnosen führen
     müssen: «Ihr Kind kann nicht lesen und schreiben, weil es zu Hause die ganze Zeit vor der Glotze und dem Computer abhängt.
     Und das tut es, weil Sie als Eltern nicht genügend Zeit mit ihm verbringen und Ihre Erziehungspflichten vernachlässigen.»
     Oder: «Ihr Kind ist des Lesens und Schreibens nicht mächtig, weil es kein Deutsch kann. Das liegt daran, dass bei Ihnen zu
     Hause kein Deutsch gesprochen wird. Vermutlich glauben Sie, es reicht, wenn man nach Deutschland einwandert, dann hat man
     seine Schuldigkeit als Eltern getan. Doch Kinder brauchen mehr.» Oder: «Ihr Kind ist weniger intelligent, als Sie immer geglaubt
     haben. Sie sollten es vom Gymnasium runternehmen. Ich kann Ihnen eine gute Hauptschule empfehlen.» Mit jeder Erklärung würde
     ich meine Besucher gegen mich aufbringen, denn eine Mitverantwortung für die Leistung ihrer Söhne und Töchter war für |64| die Eltern undenkbar. Für sie war ich von vornherein der Alleinverantwortliche für den Erfolg beziehungsweise Misserfolg ihrer
     Kinder in der Schule. Meine einzige Chance lag darin, ihre Wut gegen mich ins Leere laufen zu lassen.
    Zu diesem Zweck legte ich mir eine Standardformulierung aus dem Bereich der «tragenden Erwägungen» zur Bewertung von Prüfungsleistungen zurecht, die ich einfach allen Eltern vortragen würde, die wegen der schlechten Noten

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