Föhn mich nicht zu
der 7c mit dem zu meiner eigenen |102| Schulzeit verglich, dann hatte dieser seitdem eine deutliche Aufwertung erfahren.
Als ich selbst die siebte Klasse besucht hatte, wäre ich froh gewesen, vom stärksten Schüler nicht verprügelt zu werden. Ich
wurde nur von denen akzeptiert, die in der Klasse nichts zu melden hatten, und das wohl vor allem, weil ich noch weniger zu
melden hatte und sie sich in meiner Gesellschaft endlich einmal mächtig fühlen durften. Verglichen damit nahm ich nun im Klassengefüge
der 7c einen hervorragenden Platz ein. Um keine Disziplinprobleme zu bekommen, musste ich nur darauf achten, mich mit Murat
nicht zu überwerfen. In anderen Worten: Ich musste mit ihm immer auf einer Linie sein. Wusste ich ihn auf meiner Seite, würde
es niemand von seinen Mitschülern wagen, gegen mich zu rebellieren. Darum förderte ich ihn besonders. Er hatte das auch bitter
nötig, denn seine Schulleistungen ließen eine Versetzung in die achte Klasse nicht erwarten. Und da er die Siebte bereits
zum zweiten Mal besuchte, würde ein erneutes Sitzenbleiben für ihn den Abgang vom Gymnasium bedeuten.
Bei der Übernahme der 7c von Herrn Schwanitz stand Murat in Geschichte auf einer schlechten Fünf. Ich erkundigte mich in der
Klasse, ob jemand bereit sei, ihm Nachhilfe zu geben. Aber die meisten Schüler, vor allem die besseren, hatten mit seiner
dominanten und aggressiven Art bereits unangenehme Erfahrungen gemacht. Niemand bot sich an. So tat ich es. Er lehnte jedoch
meine Hilfe ab, da es ihm zeitlich nicht passte. Es blieb mir dadurch nur noch der Notenspielraum, um seine Leistungen positiv
zu steuern.
Eigentlich gab es für Noten klare Vorgaben. Noten wurden in feststehende sprachliche Wendungen übersetzt, die darüber Auskunft
geben sollten, ob ein Schüler den Anforderungen gerecht wurde. Natürlich ließen sich diese Wendungen interpretieren. Zum Beispiel
zugunsten der Schüler.
|103| Als ich Murat das erste Mal mündlich prüfte, hätte ich ihm eigentlich eine Sechs erteilen müssen, da er praktisch keine sinnvollen
Antworten auf meine Fragen zustande brachte. Ich entschied mich aber, ihn nicht gleich durch ein so gravierendes Misserfolgserlebnis
zu demotivieren: «Okay, Murat! Eigentlich müsste ich dir jetzt eine Sechs geben. Wegen der seltsamen Antworten. Aber ich will
noch mal ein Auge zudrücken. Du bekommst eine Drei, weil du, obwohl du nichts wusstest, trotzdem mitgemacht hast – und weil
es das erste Mal war. Um dich anzuspornen, dich beim nächsten Mal besser vorzubereiten.» Bei einer schriftlichen Leistung
hätte ich nie so weit gehen können.
Mein Ziel war es, dass sich Murat auf dem Zeugnis um zwei Noten verbesserte, ein Befriedigend erhielt. Mir war natürlich die
Ambitioniertheit dieses Vorhabens klar. Damit es nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, führte ich die Regel ein,
dass jeder Schüler pro Halbjahr die acht schlechtesten Noten streichen durfte.
Nach drei Wochen hatte Murat diese Option ausgeschöpft. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen, um ihn bei Laune zu
halten. Zum Beispiel seine fast durchweg falschen Beiträge im Unterricht regelmäßig in richtige Antworten umdeuten, so etwa
seine Entgegnung auf die Frage nach dem Todesjahr Martin Luthers: «1789.» – «Nicht ganz, Murat. Es war 1546. Du bist aber nah dran gewesen. Und immerhin hast du gewusst, dass er überhaupt schon tot ist. Und wer weiß, wie alt Luther
bei einer besseren medizinischen Versorgung hätte werden können. 1789 hätte durchaus drin sein können. Und wie ich dich kenne,
hast du das von dir gewählte Jahr nicht zufällig gewählt. Du hast sicherlich die Französische Revolution im Sinn. Das ist
toll, Murat, dass du über den gerade behandelten Stoff hinausdenkst, dass du Wissen vernetzt. Du bekommst in Mitarbeit auf
jeden Fall eine gute Note.»
Die anderen Schüler hatten es dafür weitaus schwerer, meinen |104| Anforderungen gerecht zu werden. Denn ich musste ihnen gegenüber ja besondere Strenge walten lassen, um die Nachsicht gegenüber
Murat zu kompensieren und nicht als Lehrer zu gelten, der nicht durchgriff:
«Wer kann mir denn sagen, wann Luther seine fünfundneunzig Thesen an das Portal der Kirche zu Wittenberg nagelte? … Ja, Yasmin?»
«1517!»
«Yasmin, diese Antwort kann ich nicht akzeptieren. Ich habe euch doch hinlänglich erklärt, dass ihr im ganzen Satz antworten
sollt. Die vollständige Antwort
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