Föhn mich nicht zu
hätte gelautet: ‹Luther hat seine fünfundneunzig Thesen im Jahr 1517 an das Portal der Kirche
zu Wittenberg genagelt.› Das sind sechzehn Wörter. Somit hast du im Prinzip nur ein Sechzehntel der Aufgabe gelöst. Ich drücke
aber noch mal ein Auge zu. Du bekommst eine Fünf.»
Die meisten Schüler verschlechterten sich unter mir. Verbessern taten sich nur die wenigen, die noch enger mit Murat befreundet
waren als ich. Ich fürchtete mich stets davor, dass die Jugendlichen irgendwann diesen Zusammenhang verstehen und sich darauf
alle mit Murat anfreunden würden. Dann hätte ich mir etwas ausdenken müssen, um nicht allen eine Eins geben zu müssen, wenn
ich nicht meinen strengen Ruf einbüßen wollte.
Ali beschwerte sich einmal in der Pause bei mir, weil er sich im Vergleich mit Murat ungerecht benotet fühlte. Ich ging mit
seinem Protest offensiv um, indem ich ihn in der folgenden Stunde vor der ganzen Klasse thematisierte: «Also, gestern hat
mich Ali aufgesucht und meinte, er sei mit seinen Noten, vor allem, wenn er sich die von Murat anschaue, unzufrieden. Anders
ausgedrückt: Ali findet, Murat soll schlechtere Noten erhalten und er selber bessere. Murat, bist du mit diesem Vorschlag
einverstanden?» Murat war das nicht, und damit hatte sich die Diskussion erledigt.
Neben dem Leistungsvermögen war das Sozialverhalten von |105| Murat ein weiterer Bereich, in dem ich ihm entgegenkommen musste. Eigentlich war es verboten, die Tische der Schule zu beschmieren.
Als ich ihn das erste Mal dabei erwischte, wie er seinen mit einem Edding taggte, versuchte ich sein Interesse umzulenken:
«Zeig mal, Murat! Mensch, du bist ja ein richtiger Künstler!» Anschließend reichte ich ihm drei leere Blätter mit der Bitte,
diese für mich zu gestalten. Meine Rechnung ging nicht auf. Er zog die Tische vor. Ich fand mich damit ab, dass ich ihn in
seiner Kreativität nicht bremsen durfte. Wahrscheinlich hätte er sonst noch schlimmere Dinge getan. Nach dem Unterricht musste
immer eine besonders gehorsame Schülerin seine Schmierereien wieder entfernen. Dazu schloss ich sie im Klassenraum ein.
Um seine überbordende Energie konstruktiv einzubinden, ernannte ich Murat zum Disziplinbeauftragten. Ich hoffte, ihn dadurch,
dass ich ihm während des Unterrichts diese verantwortungsvolle Aufgabe anvertraute, davon abhalten zu können, noch mehr Unfug
anzustellen. Er nahm sich allerdings die Freiheit, selbst darüber zu verfügen, ob jemand, weil er zu sehr störte, den Raum
verlassen musste. Dabei ging er nicht besonders feinfühlig vor. So schleifte er Schüler, die seiner Aufforderung nicht nachkamen,
an den Haaren zur Tür. Und der hübschen Anja zog er einmal den Stuhl unterm Hintern weg, mit dem Erfolg, dass sie weinte.
Es hätte aber auch jeden anderen treffen können. Sie hatte nur das Pech, vor ihm zu sitzen. Mir blieb nichts anderes übrig,
als zu intervenieren: «Da muss man nicht weinen, Anja! Das war doch nur ein kleiner Scherz von Murat.» Aber sie wollte sich
einfach nicht beruhigen: «Anja, geh bitte raus! Du kannst wieder am Unterricht teilnehmen, wenn du dich beruhigt hast.» So
schwer es mir fiel, aber ich durfte Murat nicht in den Rücken fallen.
Einen Tag später hatte ich Anjas aufgebrachte Mutter am Telefon. Frau Meier überhäufte mich mit Vorwürfen und ließ mich kaum
zu Wort kommen. Zum Glück musste sie irgendwann |106| Luft holen. Hier bot sich mir die Gelegenheit, ihre Attacke abzuwehren:
«Frau Meier, sind Sie Nazi?»
«Wieso?»
«Na, Ihre Empörung fiele doch wohl deutlich schwächer aus, wenn der von Ihnen inkriminierte Schüler nicht Türke wäre!»
«Das stimmt überhaupt nicht! Es geht um sein Verhalten.»
«Das nehme ich Ihnen nicht ab. Heute ist es angeblich nur sein Verhalten. Und morgen? Sein Aussehen? Seine Herkunft? Seine
Religion? Welche Partei wählen Sie eigentlich?»
Dass sie sich auf das Wahlgeheimnis berief, machte sie nur noch mehr verdächtig. Am Ende ließ sie sich jedoch einschüchtern.
Zu meinem Schrecken erfuhr ich auf der Zensurenkonferenz am Ende des Schuljahres, dass Murat die Schule verlassen musste,
da er in fast allen Fächern eine Fünf hatte oder sogar noch schlechter dastand. Nur in Geschichte, wo er eine Drei bekam,
und in Sport, wo er mit einer Eins rechnen konnte, sah es für ihn besser aus. Die Nachricht erwischte mich ziemlich hart.
Ich musste dafür kämpfen, die 7c loszuwerden. Denn es war fraglich, ob
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