Föhn mich nicht zu
Schließlich
kam mir eine Idee: Ich erkundigte mich beim Bäcker am S-Bahnhof Bellevue, ob wir unser Zeug dort deponieren könnten. An der Theke war man einverstanden. Meine Schüler weniger. Zwei kamen
mit dem Einwand zu mir, das Geschäft werde von Türken betrieben und Türken sei nicht zu trauen. Dieses Vorurteil konnte ich
als Lehrer natürlich nicht unwidersprochen lassen. Ich war bereits an der Uni für jegliche Formen von Stereotypisierungen
und Fremdenfeindlichkeit in der Schule sensibilisiert worden.
«Ich hoffe, ihr wisst, dass das Rassismus ist. Versetzt euch mal in die Lage der Leute! Die bieten uns an, dass sie eure Sachen
nehmen. Und dann sage ich ihnen: ‹Tut mir leid, aber meine Schüler wollen ihre iPods und Mobiltelefone nicht bei Ihnen lassen,
weil Sie Türken sind. Würdet ihr das gut finden? … Ali, Ogan, antwortet bitte!»
Die beiden drucksten ein bisschen verlegen herum, fügten sich aber schließlich meinem Willen und gaben ihre Geräte ab.
Ich sah mich nicht das erste Mal mit ausländerfeindlichen Vorurteilen konfrontiert. Meine Schüler gingen mit ressentimentgeladenen |149| Klischees gegenüber anderen Nationen, Kulturen und Religionen ziemlich unverkrampft um. Überraschend vor allem, weil es in
meiner Klasse ganze vier Schüler deutscher Herkunft gab. Ich hatte eher damit gerechnet, in Schulen der östlichen Berliner
Randbezirke oder der Brandenburger Provinz auf solche Einstellungen zu stoßen, nicht jedoch in Berlin-Mitte. So geriet ich
immer wieder in die absurde Situation, als Deutscher Türken gegen Serben, Araber gegen Russen oder Bosnier gegen Nigerianer
verteidigen zu müssen.
Als einmal zu Unterrichtsbeginn Fatimas Federtasche fehlte und ich darum bat, der Täter möge sich zu erkennen geben, rief
Ogan: «Der Pole war’s.» Lautes Gelächter in der Klasse. Natürlich ergriff ich sofort das Wort für Karol, sagte, dass man ihn
nicht verdächtigen dürfe, bloß weil er Pole sei. Nicht alle Polen würden klauen. Ich kam mir ausgesprochen lächerlich dabei
vor, denn Karol hatte über Ogans Bemerkung ebenfalls lachen müssen. Gänzlich grotesk wurde mein Plädoyer für Toleranz, als
sich herausstellte, dass Karol die Federtasche tatsächlich geklaut hatte.
Es verging eigentlich kaum eine Woche, in der ich nicht auf unzählige Äußerungen hätte reagieren müssen. Allein schon, dass
Amin jedes Mal, wenn er etwas an die Tafel schreiben sollte, mit «Tu’s für Palästina!» angefeuert wurde. Stand dahinter eigentlich
schon xenophobes Gedankengut? Ich war mir unsicher und löste dieses Problem, indem ich Amin nicht mehr nach vorne bat.
Es war mir unmöglich, ständig zu intervenieren. Darum konzentrierte ich mich darauf, zumindest solche Äußerungen zu unterbinden,
in denen «Hitler hat deine Mutter gefickt!» oder irgendetwas mit Juden vorkam. Aber das war natürlich nur ein Tropfen auf
den heißen Stein. Einen grundlegenden Sinneswandel hatte selbst meine Sozialkundereihe zum Thema «Leben in Gemeinschaften»
nicht bewirkt. Rami, dessen Eltern aus dem Irak waren, und der in Sofia geborene Dimitri gaben zu Beginn |150| der Unterrichtseinheit den Türken eine Hauptschuld am Problem steigender Arbeitslosigkeit in Deutschland. Nach den acht Stunden
taten sie das noch immer.
Dass ich so wenig Erfolg hatte, war für mich sehr ernüchternd. Als Ossi hatte ich sehr früh verinnerlicht, dass man nicht
Türke oder Araber zu sagen habe, sondern «türkischer Mitbürger» oder «arabischer Mitbürger». Heute wird in meinem soziokulturellen
Milieu eine Begrifflichkeit wie «Mensch mit türkischem Migrationshintergrund» oder «Mensch mit arabischem Migrationshintergrund»
verwendet. Sobald ich also das Wort «Ausländer» nur in den Mund nahm, hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen. Ich traute
mich nicht einmal, meine Schüler nach ihrer Herkunft zu fragen oder danach, wie lange ihre Familie schon in Deutschland sei,
aus Angst, man könne mich für einen Nazi halten. Verständlich, dass ich mit dieser mentalen Verfassung in verbalen Zurechtweisungen
immer als ziemlich steifes, moralinsaures Möchtegernvorbild daherkam. Mirsat beschimpfte Hasan, ohne zu zögern: «Scheiß Araber!»
Hasan antwortete Mirsat darauf ebenso unbefangen: «Scheiß Albaner!» Ich jedoch musste politisch korrekt beleidigen: «Scheiß
Jugendlicher mit arabischem Migrationshintergrund in der zweiten Generation?»
Ein wenig beneidete ich meine Schüler
Weitere Kostenlose Bücher