Föhn mich nicht zu
sogar. Obwohl sie sich permanent ausländerfeindliche Beleidigungen an den Kopf warfen,
verband sie ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl, von dem ich als ihr Lehrer immer ausgeschlossen sein würde. Obgleich ich
ihnen mit multikultureller Toleranz begegnete und mich permanent kritisch auf fremdenfeindliche Vorurteile hinterfragte, würde
ich nie einer von ihnen sein. Ich konnte nicht einmal in meinem Freundeskreis jemanden mit Migrationshintergrund vorweisen.
Dabei hätte es mir sehr viel bedeutet.
Mich verwunderte es nicht, dass viele aus der Klasse nach der Verhandlung im Amtsgericht Tiergarten zu mir meinten, der |151| Angeklagte müsse schuldig sein, schließlich sei er Türke. Daraus sprach noch keine Abneigung. Dennoch machte ich sie auf ihr
Vorurteil aufmerksam: «Die Herkunft ist kein Indikator für die Schuldigkeit. Soziale Faktoren sind viel wichtiger.» Und es
wunderte mich auch nicht, zu spüren, wie erleichtert meine Schüler waren, als ihnen in der türkischen Bäckerei sämtliche hinterlegten
iPods und Handys wieder ausgehändigt wurden.
«Seht ihr! Damit habt ihr nicht gerechnet. Ihr habt hoffentlich daraus gelernt, dass man Menschen nicht nach ihrer Nationalität
beurteilen soll.» Dabei atmete sogar ich innerlich auf. Man konnte ja nie wissen.
Lehrerzimmer, Mittwoch, zwischen erster und zweiter Stunde
Frau Reiz: Herr Serin, legen Sie mir bitte noch Ihren Jahresplan ins Fach! Alle anderen haben das schon gemacht.
Ich: Jahresplan?
Frau Reiz: Da schreiben Sie rein, was Sie dieses Jahr inhaltlich in Ihren Klassen vorhaben. Und mit welchen Medien Sie arbeiten.
Ich: Und wieso müssen wir das machen? Das war doch letztes Jahr auch nicht so.
Frau Reiz: Es geht nicht darum, dass ich Sie kontrollieren will. Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Nein. Aber ich habe gemerkt, dass
es gut ist, wenn wir alle einen Überblick haben, was die Kollegen tun. Dann können wir uns alle miteinander abstimmen, besser
zusammenarbeiten.
|152| 24
Dabei ging ich nicht mal mehr auf die Schülertoilette
«Herr Serin, kommen Sie herein!» Die Tür zu Herrn Schuberts Büro stand zwar meistens offen, aber eigentlich hatte ich noch
niemanden aus unserer Seminargruppe dabei beobachtet, wie er unaufgefordert eingetreten war. Es ging allen Referendaren wie
mir. An der Schwelle zu seinem Raum verwandelten sich sonst durchaus selbstbewusste Akademiker in unsichere und angespannte
Studienreferendare. Wenn es nicht unbedingt nötig war, verzichteten wir auf ein Vier-Augen-Gespräch mit unserem Hauptseminarleiter.
Aber es gab einige unvermeidbare Pflichttermine. Dazu zählten die Auswertungen unserer von ihm besuchten Vorführstunden. Und
das Jahresgespräch. In diesem sollten wir darlegen, wo wir unsere Stärken und unsere Schwächen sahen, sowie unsere Zielsetzungen
für das zweite Ausbildungsjahr formulieren. Die Besprechung sollte in eine Vereinbarung zwischen Herrn Schubert und uns münden,
wobei allen Referendaren klar war, dass unser Hauptseminarleiter unsere darin formulierten Ziele festlegte, entweder indirekt,
indem er uns dazu brachte, in vorauseilendem Gehorsam seine Vorstellungen für uns freiwillig als die richtigen anzunehmen,
oder indem er darauf verwies, wer in dieser Unterredung der Vorgesetzte und wer der Auszubildende war.
Zur Vorbereitung für diese Unterredungen hatten wir von Herrn Schubert ein Bewertungsraster erhalten, das sich in die Bereiche
Selbst- und Rollenkompetenz, Planungs- und Durchführungskompetenz, Diagnostische und Urteilskompetenz, Fachliche |153| Kompetenzen, Erziehungskompetenzen sowie Kooperations- und Kommunikationskompetenz gliederte. Meine Fachseminarleiterin für
Französisch, Frau Lau, hatte mir vorher geraten, in Gesprächen mit meinen Ausbildern selbstbewusster aufzutreten:
«Herr Serin, Sie sind zu selbstkritisch. Sie machen einen Vorschlag, und dann stellen Sie ihn gleich wieder infrage. Stehen
Sie zu dem, was Sie sagen und was Sie im Unterricht tun! Das heißt nicht, dass Sie nicht auch Fehler analysieren sollen. Aber
wenn Sie Angebote machen, wie Sie etwas das nächste Mal besser machen können, dann tun Sie das mit Überzeugung. Wenn Sie immer
wieder auf die Schwächen Ihrer Ideen verweisen, vermitteln Sie den Eindruck, Sie wüssten nicht, was Sie wollen. Als wären
Sie nicht überzeugt von Ihren eigenen Überlegungen.»
Da hatte Frau Lau sogar recht. Ich war in der Tat selten hundertprozentig von meinen Überlegungen,
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