Folge dem weißen Kaninchen
sprachliche Verwirrung, der man entgeht, wenn man aufhört, Personalpronomen wie «ich» oder «es» mit Artikel zu verwenden und zu «dem Ich» oder «dem Es» zu machen.
Verzerrte Körpergrenzen
Noch ein Selbstversuch. Hatten Sie schon einmal zwei Nasen? Das geht ganz leicht: Kreuzen Sie Zeige- und Mittelfinger, und streichen Sie mit beiden Fingerkuppen gleichmäßig über Ihre Nasenspitze, von rechts nach links und links nach rechts. Wenn Sie die richtige Geschwindigkeit gefunden haben, fühlt es sich an, als hätten Sie zwei Nasen. Diese Illusion klappt übrigens mit allen Extremitäten. Man kann beispielsweise spüren, wie es ist, wortwörtlich mit gespaltener Zunge zu sprechen. Selbst Tischkanten und Mobiltelefone sind nicht vor der Verdopplung sicher. Diese wohl älteste der bekannten Körperillusionen heißt
Aristoteles’ Illusion
. Aristoteles beschreibt sie wie folgt: «Der Tastsinn beispielsweise hält bei der Verschlingung der Finger für zwei Gegenstände, was dem Gesichtssinn als einer erscheint.» Offenbar werden die taktilen Informationen so verarbeitet, als seien die Finger nicht gekreuzt. Beide Finger werden an der Außenseite berührt, was im Normalfall nur dann passiert, wenn zwei Gegenstände da sind. Der Mechanismus, der uns unser Körpergefühl gibt, scheint auf diesen Normalfall geeicht zu sein.
Das zeigt übrigens auch eine andere Illusion, bei der man den eigenen Arm verkleinern kann. Jedenfalls fühlt es sich so an. Dazu muss man lediglich ein vibrierendes Haushaltsgerät von außen an den Arm halten. Als der englische Psychologe Patrick Haggard davon erfuhr, schickte er seinen damaligen Assistenten, den griechischen Psychologen Manos Tsakiris, los, um einen Vibrator zu kaufen. Vermutlich war Tsakiris der erste, der in einem Londoner Sexshop um eine Quittung für wissenschaftliches Forschungsmaterial bat. Haggard hielt den Vibrator von außen an die Armbeuge und reizte seine Nerven dabei so, dass er das Gefühl hatte, sein Arm würde schrumpfen. Als er sich dabei gleichzeitig an die Nase fasste, hatte er den Eindruck, sie werde immer länger. Irgendetwas in unserem Geist scheint den relativen Abstand zwischen Körperteilen zu berechnen. Da die Finger die Nasenspitze berühren, der Arm aber «schrumpft», «wächst» die Nase entsprechend mit. Kleines Spielzeug, große Wirkung.
Wir wissen, dass es sich bei den Effekten dieser Selbstversuche um Illusionen handelt. Niemand nimmt an, dass Nasen wie bei Pinocchio wachsen können oder dass sie sich tatsächlich verdoppeln. Anders ist das bei den krankhaften Körperillusionen. Ein Beispiel: Nennen wir sie Isabel. Ihre Oberschenkel sind dünner als ihre Knie. Die Haut ist auf die Knochen gespannt. Eingefallen sind ihre Wangen, die Augäpfel tief in den Höhlen. Wenn Isabel die Augen schließt, gleicht sie einem Leichnam. Als sie eine Klinik für Magersüchtige aufsucht, wiegt sie weniger als 40 Kilo bei einer Größe von 1 Meter 70 . Lange wird es dauern, bis Isabel ihr natürliches Gewicht wiedererlangt. Gesundet ja, aber nicht geheilt. Der Nierenschaden bleibt. Die Rückfallgefahr auch.
Magersucht tritt vor allem in der westlichen Kultur auf. Sie betrifft fast nur Frauen, besonders die jungen. Die Standardtheorien suchen die Erklärung im Schönheitswahn: Die Mode zwinge Frauen ein Schlankheitsideal auf, in dessen Verfolgung einige ihre Grenzen überschreiten. Zudem sind Magersüchtige vor ihrer Krankheit häufiger depressiv als Durchschnittspersonen und leiden häufiger unter dem Zwang, alles in ihrem Leben kontrollieren zu wollen. Und viele haben von ihren Eltern wenig Liebe erfahren.
Das Zusammenspiel dieser Faktoren ist wissenschaftlich zwar noch nicht vollständig verstanden, doch in all diesen Varianten ist ein schiefes Körperbild das wesentliche Merkmal. Magersüchtige nehmen sich oft nicht als dürr wahr. Es ist, als hätten sie einen Zerrspiegel im Kopf, der ihr Spiegelbild so verfremdet, dass sie sich selbst als füllig sehen. Selten können sie dieses Zerrbild aus eigener Kraft geraderücken. Deshalb müssen Patientinnen in vielen Therapien zuerst ihre Umrisse auf den Boden malen, ohne vorher nachzumessen. Wenn sie sich dann hineinlegen, erschrecken sie: Tatsächlich sind sie halb so breit wie angenommen. In manchen Fällen führt erst dieser Augenöffner zur Selbsterkenntnis.
Husserls Unterscheidung zwischen dem erlebten und dem objektiven Körper hilft hier ebenfalls weiter: Man kann sich dick fühlen oder aber
Weitere Kostenlose Bücher