Folge dem weißen Kaninchen
tatsächlich berühren müsste. Unser persönlicher Nahbereich, den wir unsichtbar mit uns herumtragen, ist beim Autofahren einfach nur ein wenig größer, weil wir mit dem Auto eine gefühlte Einheit bilden. Selbst in virtuelle Autos kann man sich einfühlen, wie jeder weiß, der schon einmal ein Autorennen auf der Spielkonsole beobachtet hat. Die Spieler gehen dabei rechts und links in die Kurve, obwohl sie daheim auf dem Sofa vor dem Bildschirm sitzen. Sogar mit dem Gameboy in der Hand streckt man sich manchmal in die Höhe, damit Super Mario den Pilz fangen kann, oder man duckt sich, wenn scharf auf ihn geschossen wird. Hätte Heidegger den Gameboy und die moderne Forschung zur Werkzeugverwendung gekannt, hätte er vielleicht eine klarere Vorstellung davon gehabt, wie sich Artefakte «zuhanden» und «zufüßen» anfühlen können: Wir haben zwar das Gefühl, dass sie ein Teil von uns werden, doch das verändert nicht unsere visuelle Wahrnehmung.
Husserl und Heidegger hatten großen Einfluss auf die französische Philosophie, besonders auf Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty. Merleau-Ponty vertritt beispielsweise die These, dass unser Körpererleben weder geistig noch materiell ist, sondern beide Aspekte vereint. In gewisser Weise ist er also nicht Dualist, sondern Trialist, denn er nimmt neben Geist und Materie eine dritte Seinssphäre innerhalb des Universums an, von der sich die traditionellen Kategorien, also Körper und Geist, erst ableiteten. Die gefühlten Körper seien wie Gemälde von Cézanne oder Gedichte, die immer wieder neue Sichtweisen und Interpretationen zuließen, auch wenn sich am eigentlich Stofflichen nichts ändere: an den Knochen, Muskeln und Sehnen ebenso wenig wie an der Ölfarbe oder der Druckerschwärze. Man könne die Welt als Körperwelt objektivieren mit all ihren Tischen, Bergen und Galaxien. Aber darin stecke immer schon die körperlich-gefühlte, prozesshafte Wahrnehmung der Welt.
Merleau-Ponty wollte aus der Sackgasse des Körper-Geist-Dualismus hinaus, ist dabei jedoch auf der Überholspur ins argumentative Niemandsland gerast. Seinen Fehler kann man vielleicht so rekonstruieren. Er hat erkannt, dass es eine doppelte Abhängigkeit gibt: ohne Körper kein Bewusstsein, aber ohne Bewusstsein auch kein Zugang zur Körperwelt. Dabei hat er allerdings übersehen, dass diese Abhängigkeit asymmetrisch ist. Die erste ist stark: Das Bewusstsein hängt vom Körper ab. So ist die Welt nun einmal beschaffen. Die zweite ist jedoch schwächer: Man braucht ein Bewusstsein, um über die Welt nachzudenken. Das ist der Welt allerdings egal. Sie hängt nicht davon ab, wie wir sie erfassen. Die Welt existiert in ihrer ganzen Vielfalt auch dann, wenn wir nicht über sie nachdenken.
Statt neue Seinssphären zu erfinden, sollte man eher dem Alltagsdualismus auf den Leib rücken. Wir reden oft so, als gäbe es uns und dazu noch unseren Körper, den wir irgendwie mit uns herumtragen müssen. Eine klassische Situation: Morgens im warmen Bett, draußen ist es kalt, ich will aufstehen, doch mein Körper will lieber liegen bleiben. Was soll ich machen? Gegen meinen Körper komme ich nicht an. Wenn ich so zwischen mir und meinem Körper trenne, finde ich immer die passende Ausrede: Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach. Oder umgekehrt. Beide zusammen sind jedenfalls nie ganz auf der Höhe. Der deutsche Lyriker Robert Gernhardt ironisiert diesen Dualismus in seinem Gedicht
Siebenmal mein Körper
. Dort heißt es: «Mein Körper ist ein schutzlos Ding, wie gut, daß er mich hat. Ich hülle ihn in Tuch und Garn und mach ihn täglich satt.» Und später: «Mein Körper ist voll Unvernunft, ist gierig, faul und geil. Tagtäglich geht er mehr kaputt, ich mach ihn wieder heil.»
Obwohl wir so reden, als gäbe es uns unabhängig von unserem Körper, besteht dieser Dualismus nur oberflächlich, wie der englische Philosoph Peter Frederick Strawson deutlich macht. Tatsächlich beziehen wir uns mit «ich» immer auf uns als ganze Personen und nicht einmal auf unser «Ich» und ein andermal auf unseren Körper. Wir als Personen haben nun einmal sowohl physische als auch mentale Eigenschaften. René Descartes sagt: «Ich denke, also bin ich», und René Weller, der Boxer, sagt: «Ich denke, ich bin Leichtgewicht.» Beide reden über sich, auch wenn sie unterschiedliche Aspekte ihrer Person betonen. Es klingt zwar so, als gäbe es neben uns noch unseren Körper und unser Ich, aber das ist eine
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