Folge dem weißen Kaninchen
denken, dass man dick ist, weil man auf die Waage schaut. Das Fühlen ist bildhaft, konkret und von innen direkt erlebt, während das Denken auf objektiven Daten beruht und daher abstrakt repräsentiert ist, nämlich durch sprachlich verfasste Gedanken, in denen sogar Zahlen auftauchen können. Normalerweise passen beide Formate im Bewusstsein zusammen. Bei Magersüchtigen gehen sie auseinander, denn selbst wenn Patientinnen
wissen
, dass sie 40 Kilo wiegen,
fühlen
sie sich nicht zu dünn. Die deutschen Mediziner Martin Grunwald und Thomas Weiß verfolgen deshalb einen originellen Therapieansatz. Sie baten eine ihrer Patientinnen, regelmäßig einen Taucheranzug aus Neopren unter ihrer normalen Kleidung zu tragen. Nach einem Jahr hatte das Gewicht der Patientin zugenommen. Die Forscher maßen auch eine erhöhte Aktivität in der rechten Hirnhälfte, also dort, wo sich die Grundlagen für unser Körperbild befinden. Sie vermuten, dass der konstante Druck auf der Hautoberfläche ebendiese Nervenzellen stimuliert und so das bisher zu schwach repräsentierte Körperbild wieder normalisiert hat.
Fühlen und Wissen konkurrieren in vielen klinischen Syndromen. Schon Migräne kann zu verzerrten Körperempfindungen führen. Einige Patienten haben bei ihren Kopfschmerzanfällen auch das Gefühl, sie würden schrumpfen oder so in die Höhe schießen, als könnten sie die Decke mit den Händen berühren. Dieses Phänomen wird manchmal
Alice-im-Wunderland-Syndrom
genannt, weil Alice dasselbe widerfährt, als sie das Verkleinerungselixier trinkt und den Vergrößerungskuchen isst. Auch Lewis Carroll litt an Migräne. Einige Interpreten vermuten daher, dass seine Anfälle die Inspiration für Alice’ Erlebnisse waren. Nur wenige Migränepatienten lassen sich allerdings von ihren eigenartigen Gefühlen dazu verleiten, wirklich zu glauben, sie seien plötzlich gewachsen und geschrumpft. Sie wissen, dass ihre Körperempfindungen sie täuschen.
Das ist nicht immer so. Ein anderer Fall: Nennen wir ihn Michael. Er hat zwei gesunde Hände, aber die linke fühlt sich an, als gehöre sie nicht zu ihm. Michael hat den Eindruck, sein Körper ende am Handgelenk. Er ist nicht verrückt. Er weiß, dass jeder Mensch zwei Hände hat. Doch durch eine Hirnverletzung leidet er am
Fremde-Hand-Syndrom
, einer seltenen Störung des Körperbildes. Genauer müsste man «Fremde-Gliedmaßen-Syndrom» sagen, denn es kann auch die Füße oder Beine betreffen. Weil kein Arzt Michaels Hand amputieren will, greift er zum Beil. In der Klinik verbindet man seinen Armstumpf. Trotz der Schmerzen fühlt er sich befreit.
Ärzte weigern sich, Patienten gesunde Gliedmaßen abzutrennen. Schon in der ursprünglichen Formulierung des Eids des Hippokrates war Medizinern verboten, ihre Fähigkeiten «zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden». Der Fall des Fremde-Hand-Syndroms ist jedoch alles andere als klar, denn die Patienten leiden unter der «fremden» Hand. Mit Husserl könnte man sagen: Ihr Leib ist krank, auch wenn ihr Körper gesund ist. In ihrer Not werden viele daher kreativ. Ein australischer Kranker, der seinen Fuß als fremd empfand, hielt ihn so lange in einen Eimer mit Trockeneis, bis auch die tieferen Gewebeschichten zerstört waren. Er spürte dabei nur ein Kribbeln. Nun waren die Ärzte im Krankenhaus gezwungen zu amputieren, denn der Fuß war nicht mehr zu retten. Der Amputierte trägt jetzt eine Prothese. Er fühlt sich wie neugeboren. Wir als gesunde Menschen können uns in diese Art des Leidens nur schwer hineinfühlen. Man muss es sich in etwa so vorstellen, als wüchse ein riesiges, widerliches Geschwulst irgendwo am Körper, von dem die Familie, die Freunde und sogar die Ärzte sagen, das sei vollkommen normal und gehöre genau dorthin.
Einige Illusionen sind also gar nicht auflösbar und andere nur mit großer Mühe. Dabei siegt das visuell vermittelte Körperbild nicht immer direkt über das innere, gefühlte Körperbild. Manchmal muss man noch einen Schritt weiter gehen.
Körper ohne Gefühl, Gefühl ohne Körper
Die griechische Psychologin Aikaterini Fotopoulou und ihre Kollegen berichten von einer englischen Patientin, die nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt war und daher ihren linken Arm nicht mehr bewegen konnte. Die 67 -jährige Rentnerin hatte einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten, war akademisch gebildet und geistig vollkommen klar. Dennoch nahm sie ihre Behinderung nicht als Behinderung wahr. Sie war
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