Folge dem weißen Kaninchen
sich sicher, dass mit ihr alles in Ordnung sei. Die Patientin litt an einer
Anosognosie
, dem Nichterkennen eines eigenen Leidens. In der Therapie versuchte Fotopoulou zunächst, ihre Patientin durch einfache Aufgaben auf den Defekt aufmerksam zu machen. Sie bat die Rentnerin, ihren linken Arm zu heben, und fragte sie dann, wo er sich befinde. Der Arm lag nach wie vor auf dem Tisch, doch die Patientin behauptete steif und fest, dass sie ihn in der Luft halte. Fotopoulou fragte, warum dann immer noch zwei Hände auf dem Tisch lägen, worauf die Patientin meinte: «Das ist nicht meine Hand auf dem Tisch. Das ist Ihre.»
Für Patienten mit Anosognosie sind
Konfabulationen
dieser Art typisch, also Geschichten, mit denen sie ihre Ausfälle und Störungen vor sich selbst irgendwie plausibel machen. Alle Menschen machen manchmal sich selbst oder anderen etwas vor. Wenn wir einen Job oder Studienplatz nicht bekommen haben, reden wir uns beispielsweise ein, dass wir ihn auch gar nicht wollten. Und wenn wir einen viel zu teuren Mantel oder Fernseher haben wollen, reden wir uns ein, dass wir ihn wirklich ganz dringend brauchen. Bei Patienten mit Anosognosie treten diese Selbsttäuschungen in besonderer Weise auf, denn sie sind systematisch, vielschichtig, kreativ und vor allem fast unauflösbar. Wie im Fall der halbseitig gelähmten Rentnerin.
Erst als Fotopoulou die Videoaufnahme einer Sitzung abspielte, wurde der Patientin schlagartig klar, dass sie wirklich gelähmt war. Von innen hatte sie es nicht gespürt. Auch ein Spiegel allein hatte in ihrem Fall nicht ausgereicht. Die gefühlte Körperillusion war so stark, dass sie nicht gleichzeitig visuell auslöschbar war. Fotopoulou und ihre Kollegen vermuten, dass die zeitliche Verzögerung eine Rolle spielte. Nur durch diese Distanz merkte die Patientin, dass mit ihren gefilmten Bewegungen in früheren Sitzungen etwas nicht stimmte.
Man kann sich fragen, wie man überhaupt ein inneres Körperbild erwirbt. Hinweise dazu stammen aus der Forschung an einer Patientin, die ohne Unterarme und Beine geboren wurde. Die Frau, eine Akademikerin in den Vierzigern, berichtete, dass sie Zeit ihres Lebens ein inneres Bild von ihren Armen und Beinen gehabt habe, so als würden sie nicht fehlen. Die Eindrücke seien nicht so klar und deutlich wie die von ihrem tatsächlichen Körper, aber dennoch immer präsent gewesen. Bildgebende Verfahren zeigten, dass derjenige Bereich in ihrem Haupthirn aktiv war, der auch bei gesunden Menschen für die Wahrnehmungen der Gliedmaßen zuständig ist. Als dieser Bereich durch transkranielle Magnetstimulation von außen künstlich aktiviert wurde, hatte die Patientin den Eindruck, sie spüre etwas in den Fingerspitzen.
Nun könnte man zunächst meinen, dass diese Illusion genauso erklärt werden kann wie der
Phantomschmerz
, ein Phänomen, das der Menschheit seit Jahrtausenden vor allem durch Kriege bekannt ist. Über siebzig Prozent aller Patienten, die Gliedmaßen verlieren, klagen über Schmerzen in demjenigen Stück ihrer Arme oder Beine, das sie verloren haben. Die Reizung der freiliegenden Nerven am Arm- oder Beinstumpen tragen dazu bei, dass für die Versehrten der Eindruck entsteht, die Gliedmaßen seien noch intakt. Dieses Phänomen heißt nicht deshalb «Phantomschmerz», weil der Schmerz nicht real ist, denn der ist oft unerträglich. Das Phantomhafte betrifft die körperliche Täuschung, nämlich den Eindruck, dass da noch ein Arm oder Bein ist, in dem es schmerzt. Bei der arm- und beinlosen Patientin ist die Situation jedoch anders, denn sie hat ja nie Gliedmaßen gehabt, die sie hätte spüren können. Ihre Körperillusionen könnten dafür sprechen, dass Menschen ein angeborenes Körpermodell haben, das selbst dann aktiv ist, wenn ihnen die echten Körperteile fehlen.
Man kann also Körperteile spüren, die man gar nicht hat, und solche, die man hat, übersehen oder als fremd empfinden. Aber es geht noch radikaler. Sogar der ganze gefühlte Körper kann verschwinden oder plötzlich an einer anderen Stelle auftauchen.
Wo ist der Körper?
Der Engländer Ian Waterman war auf der Arbeit, als es passierte. Er fiel einfach um und konnte nicht mehr aufstehen. Am Tag zuvor hatte er noch eigenhändig Schlachtvieh zerlegt, doch jetzt mussten ihn seine Kollegen auf eine Trage wuchten. Die Ärzte im Krankenhaus waren ratlos, und es sollte lange dauern, bis sie herausfanden, was mit ihm geschehen war. Watermans Immunsystem hatte eigenartig auf
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