Folge dem weißen Kaninchen
einen Grippevirus reagiert, indem es nicht nur den Krankheitserreger vernichtete, sondern auch all jene Nervenbahnen, die für unseren fünften, sechsten und siebten Sinn zuständig sind: das Fühlen von Berührungen, von Bewegungen und den Gleichgewichtssinn. Seitdem leidet Waterman an einer
sensorischen Nervenstörung
, von der es weltweit nur eine Handvoll Fälle gibt. Vom Nacken herab spürt er rein gar nichts auf der Hautoberfläche: weder Wärme, Kälte, Druck noch Schmerz. Auch seine
Tiefensensibilität
ist ausgelöscht, das Gefühl für die Lage der Gliedmaßen im Raum, für die Anspannung der Muskeln und für das Fühlen von Bewegungen. Ihm fehlt damit jede Form von
Propriozeption
, das Gefühl dafür, wo er sich im Raum befindet. Waterman ergeht es also wie vielen Querschnittsgelähmten. Mit einer Ausnahme: Seine motorischen Nerven sind vollkommen intakt. Die Nervenimpulse für Bewegungen laufen also nach wie vor vom Hirn zu den Muskeln. Da Waterman allerdings beim Ausbruch der Krankheit nicht spürte, wo seine Gliedmaßen waren, konnte er sie auch nicht bewegen.
Die behandelnden Ärzte prophezeiten dem neunzehnjährigen Waterman ein Leben im Rollstuhl. Sie hatten allerdings nicht mit seiner Willensstärke gerechnet. Er wollte ein Leben als Behinderter einfach nicht akzeptieren. Eines Tages lag er im Krankenbett und nahm sich vor aufzustehen. Er konzentrierte sich auf seine Körpermitte und dachte daran, den Bauch zusammenzuziehen und die Arme nach vorne zu werfen. Plötzlich saß er aufrecht da. Vor Freude über diesen Erfolg ließ seine Konzentration nach, und er fiel sofort wieder zurück ins Bett. Doch der erste Schritt war getan. Und echte Schritte folgten.
Nach einem Jahr intensiver Physiotherapie konnte Waterman wieder gehen. Das sieht jedoch ganz anders aus als bei gesunden Menschen. Wenn wir spazieren gehen, können wir uns gleichzeitig unterhalten. Unsere Beine bewegen sich wie von selbst. Waterman muss sich nicht nur auf jeden Schritt konzentrieren, er muss auch seine Füße beim Gehen beobachten. Er kann daher nicht über die Ballen abrollen, sondern spaziert mit starren Schritten, die Fußspitzen nach außen gerichtet, ein bisschen so wie ein Pinguin. Während unsere Körpersinne ganz automatisch unser Gleichgewicht steuern, tut Waterman alles mit äußerster Konzentration. Wenn wir durch einen Raum schreiten und das Licht plötzlich ausgeht, bleiben wir stehen. Waterman stürzt sofort, denn ohne visuelle Informationen, weiß er nicht, wo oben und unten ist. Daher schläft er auch nie im Dunkeln, denn beim nächtlichen Aufwachen würde er sonst nicht wissen, wo seine Arme und Beine sind. Schlimmer noch: Würde er falsch einschlafen, könnte er sich im Schlaf den Arm brechen, ohne es zu merken. Wir fallen nicht vornüber, sobald wir im Supermarkt eine Honigmelone vom Obststand nehmen, denn all unsere Muskeln passen sich unmittelbar an das kleine Ungleichgewicht an. Waterman fällt inzwischen auch nicht mehr hin, aber nur, weil er den anderen Arm nach hinten ausstreckt. Er weiß, wie er sein Gleichgewicht hält. Er muss es wissen. Wir müssen nur fühlen.
Der Neurophysiologe Jonathan Cole hat Watermans Krankheit jahrzehntelang begleitet und dessen Erfolgsgeschichte aufgeschrieben. Watermans Anstrengungen seien wie ein «täglicher Marathon». Am Abend ist er immer erschöpft, denn die Konzentration funktioniert wie ein Muskel: Irgendwann ist die Kraft verbraucht. Watermans Fall zeigt, wie viel dahintersteckt, wenn wir Treppen steigen oder eine Blume pflücken, was also automatisch in uns abläuft, wenn wir uns auf etwas ganz anderes konzentrieren.
Einige Philosophen vermuten sogar, dass das Körpergefühl einen direkten Einfluss auf unser
Selbstbewusstsein
hat. Im Jargon der Philosophie ist mit «Selbstbewusstsein» nicht wie im Alltag die Selbstsicherheit gemeint, mit der jemand auftritt, sondern die Fähigkeit, sich seines Bewusstseins bewusst zu sein. Philosophen haben traditionell das
reflexive Selbstbewusstsein
untersucht, also die Fähigkeit des Menschen, über sich selbst nachzudenken. Dazu muss man einen Begriff von sich selbst haben, was man am besten daran erkennt, dass man «ich» sagen kann. Ganz kleine Kinder und Tiere haben keinen derartigen Ich-Begriff. Neben dieser anspruchsvollen Form des Selbstbewusstseins gibt es aber mindestens noch zwei weitere Spielarten. Zum einen das
Spiegel-Selbstbewusstsein
: Kinder können sich oft schon mit einem Jahr selbst im Spiegel
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