Folge dem weißen Kaninchen
beruht allerdings auf einer Verwechslung. Nur weil wir allen Dingen eine Funktion zuordnen können, heißt das noch nicht, dass wir sie nicht auch einfach als natürliche Dinge ansehen können. Der Baum kann Holzlieferant, Schattenspender, Klettergelegenheit und noch vieles mehr sein. Aber manchmal betrachten wir ihn einfach nur als das, was er ist: einen Baum.
Der amerikanische Philosoph Alva Noë, ein moderner Neo-Phänomenologe, vertritt eine Wahrnehmungstheorie, die Heideggers Ansatz ähnelt. Traditionell nimmt man an, jeder Mensch bekomme einen Input durch Wahrnehmung und produziere einen Output durch seine Handlungen. Noë vertritt nun die These, dass diese Trennung falsch sei, weil die visuelle Wahrnehmung eine Art körperliche Handlungssimulation sei. Sehen ist keine passive Diashow, sondern ähnelt vielmehr dem Fühlen, da wir mit unserem Blick fast buchstäblich unsere Umgebung abtasten. Unsere visuellen Eindrücke seien zudem von unserem Körpergefühl bestimmt. Ein Beispiel: Wenn wir in einem Flugzeug sitzen und nach vorne schauen, ist der visuelle Input immer derselbe, ganz gleich, ob die Maschine gerade startet oder auf der Landebahn steht. Dennoch sehe es für uns laut Noë beim Start so aus, als sei die Nase des Flugzeugs hochgezogen. Offenbar steuert unser Gleichgewichtssinn seinen Teil zu diesem Eindruck bei. Die Beobachtung ist spannend. Man kann allerdings darüber streiten, ob der Innenraum beim Start wirklich anders
aussieht
. Mir scheint eher, dass der visuelle Eindruck gleich bleibt, aber wir
zusätzlich
den Neigungswinkel spüren. Der Gesamteindruck ist dann natürlich anders, aber der besteht ja gerade nicht nur aus Sehen, sondern auch aus Fühlen und unserem Wissen über Flugzeuge.
Einige Phänomenologen gehen noch weiter: Sogar unsere Erfahrung durch direktes Berühren und durch körperliche Interaktion färbe unser Sehen ein. Wir erblickten nicht die filigrane Vase und wüssten
zusätzlich
, dass sie zerbrechlich sei, sondern die Vase sähe buchstäblich zerbrechlich aus, eben weil wir schon Geschirr haben fallen lassen. Oder: Wenn es über Nacht plötzlich geschneit hat und wir aus dem warmen Zimmer hinausschauen, sieht es buchstäblich kalt draußen aus. Ein weiteres Beispiel: Wenn wir wüssten, dass es sich bei der Außenseite eines Gebäudes nur um eine Fassade wie in einem Potemkin’schen Dorf handle, würde für uns die Außenseite auch weniger stabil aussehen. Ob das wirklich stimmt, ist ebenso fraglich wie im Flugzeugfall, denn wenn uns jemand eine Häuserfront zeigt, sieht diese Front nicht plötzlich anders aus, sobald er uns versichert, dass es sich nur um eine Filmkulisse handelt. Der visuelle Eindruck ändert sich nicht. Es scheint eher, als komme eine bildliche Vorstellung von der Rückseite hinzu. Aber das ist ein Zusatz zum visuellen Eindruck, nicht dessen essenzieller Bestandteil.
Kommen wir zurück zu den Werkzeugen. Dort scheint es ebenfalls eher ein gefühltes «Zuhandensein» zu geben als ein visuelles: Der Hammer fühlt sich nämlich an, als gehöre er zu unserem Körper. Liegt er in unserer Hand, «spüren» wir förmlich seinen Kopf, wenn wir auf den Nagel zielen. Wie beim Gummihandversuch scheint in uns etwas ganz automatisch dafür zu sorgen, dass Instrumente mit unserem gefühlten Körper «verwachsen». Ein Beispiel aus der eigenen Erfahrung: In den frühen neunziger Jahren war ich wie viele andere für kurze Zeit vom Rollerblade-Trend gepackt. Ich trug die Rollschuhe manchmal den ganzen Tag. Sobald ich sie am Abend auszog, war mir immer, als fehle etwas an meinen Füßen. Auch Skifahrer berichten davon, dass es sich anfühle, als seien ihre Skier mit ihren Füßen verschmolzen. Wenn man Heidegger in seinem eigenen Jargon präzisieren wollte, könnte man sagen: Die Rollerblades und die Skier sind den Trägern «zufüßen». Beim Einparken macht man eine ähnliche Erfahrung. Stoßen wir mit unserem Wagen an das hintere Auto, zucken wir zusammen, fast als hätten wir uns selbst gestoßen.
Mehr noch, wie der amerikanische Soziologe Jack Katz in einem Kapitel beschreibt, das «Pissed Off in L.A.» heißt, also behutsam übersetzt «Richtig sauer in L.A.»: Sobald ein anderer Wagen uns den Weg abschneidet, werden wir ungehalten, weil es sich anfühlt, als sei dieser in unseren persönlichen Sicherheitsraum eingedrungen. Schon wenn uns im Alltag ein Fremder auf einer Parkbank zu nahe kommt, spüren wir das körperlich, ohne dass er uns dafür
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