Folge dem weißen Kaninchen
Geist sich selbst etwas vormachen kann: Irgendetwas in uns rekonstruiert, metaphorisch gesprochen, die visuelle Perspektive und passt sie der fälschlich gefühlten Raumposition an. Man staunt zuerst, dass so etwas möglich ist, aber tatsächlich kennen wir alle solch unglaublich real wirkenden Halluzinationen: und zwar aus unseren Träumen.
Blanke und seine Kollegen konnten mit Hilfe der Magnetstimulation auch in gesunden Menschen Illusionen hervorrufen, die mit den außerkörperlichen verwandt sind. Die Probanden haben dabei zwar nicht den Eindruck, ihren Körper zu verlassen, aber sie erleben ebenfalls Störungen der Selbstwahrnehmung, und zwar
autoskopische Halluzinationen
: Ihnen scheint, als säßen sie sich selbst gegenüber. Nicht immer ist das so, als würde man in einen virtuellen Spiegel blicken. Oft sahen die Doppelgänger anders aus als die Versuchspersonen. Einige trugen fremde Kleidung oder hatten eine andere Frisur. Ein Proband berichtet, sein Gegenüber sei eine jüngere und vitaler wirkende Kopie von ihm gewesen, die ihn freundlich angelächelt habe. Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Erinnerungen der Versuchsperson zur Illusion beitragen.
In Nietzsches Werk
Also sprach Zarathustra
tritt die Hauptfigur in ein Zwiegespräch mit sich selbst. Mit Hilfe von Magnetstimulation kann jetzt jeder diese meditative Erfahrung machen. Selbst wenn man seinen Doppelgänger nicht kitzeln kann, so kann man doch zusammen das alte Spiel spielen: Wer zuerst lacht, verliert. Oder gewinnt.
Unsere Körper ist nicht nur ein «schutzlos Ding», wie Gernhardt sagt, sondern auch ein seltsames Ding: Er ist immer da und bleibt doch meist unscheinbar im Hintergrund. Unser Fühlen, Berühren und unser Gleichgewichtssinn sind zusammen unverzichtbar, um schon einfachste Bewegungen auszuführen. Gleichzeitig sind sie anfällig für Illusionen über die Grenzen oder gar die Position unseres Körpers. Und obwohl das Sehen oft das Fühlen übertrumpft, kann unser sprachlich verfasstes Wissen unser verzerrtes Fühlen nur mit Mühe geraderücken, denn das sitzt tief. Es ist so ähnlich wie bei einer guten Geschichte: Ganz gleich, was wir dabei denken oder uns vorstellen, am Ende zählt, ob sie uns berührt.
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Kapitel 10 Leben Der Sinn des Todes
Manchmal erfasst mich eine tiefe Wehmut, wenn ich einen Kinofilm aus der Zeit sehe, als ich selbst noch ein Kind war. Vielleicht rufen diese Filme Erinnerungen an das Abenteuerleben von damals wach: Höhlen bauen, über Zäune klettern, heimlich ein Lagerfeuer machen. Vielleicht ist es die Erkenntnis, dass dieses sorglose Erkunden und Entdecken unwiederbringlich vorbei ist, diese Zeit, die noch Mysterien kannte. Aber vielleicht ist es auch beides, Gefühl und Gedanke: die angenehme Erinnerung an die Vergangenheit und die Ahnung der Endlichkeit, die unausgedrückte, allenfalls halbbewusste Einsicht, dass ich zur Zeit des Films ein Kind, doch die Menschen darin so alt wie ich heute waren, und dass ich heute so alt bin wie sie damals und bald so alt sein werde, wie sie es jetzt sind.
Manchmal werde ich nachdenklich, wenn ich Freunde von früher nach Jahren wiedertreffe. Obwohl unsere Lebenswege uns so weit voneinander entfernt haben, obwohl uns kaum noch etwas verbindet, so bleibt doch das Wissen, dass wir einmal eine gemeinsame Kindheit hatten. Und dann verliert sich mein Blick in diesem fast fremden Gesicht: In den Lachfalten sehe ich nur die Spuren der Zeit und damit die eigene Endlichkeit.
Manchmal spüre ich einen Schauder, wenn ich daran denke, dass jedes Ziel so ungeheuer winzig ist im fast leeren Weltall, ganz gleich, wie großartig es erscheinen mag, und dass jedes noch so erfüllte Leben flüchtig und bedeutungslos ist in der ewigen Zeit.
Doch diese Momente der Wehmut verschwinden, die großen Gedanken verfliegen, und alles ist dann wieder so wichtig und dringend, wie es immer war: meine Wünsche und Pläne, meine Erlebnisse und Taten und mein ganzes Leben. Was könnte wichtiger sein?
Memento mori!
Nietzsche spricht in der
Fröhlichen Wissenschaft
ebenfalls von Wehmut, allerdings als Teil eines gemischten Gefühls: «Es macht mir ein melancholisches Glück, mitten in diesem Gewirr der Gäßchen, der Bedürfnisse, der Stimmen zu leben: wieviel Genießen, Ungeduld, Begehren, wieviel durstiges Leben und Trunkenheit des Lebens kommt da jeden Augenblick an den Tag! Und doch wird es für alle diese Lärmenden, Lebenden, Lebensdurstigen bald so stille
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