Folge dem weißen Kaninchen
Titanic sank und Jack sich für Rose opferte, sind selbst echten Kerlen vereinzelte Tränen die Wangen hinuntergelaufen. So, wie unsere Gefühle Kernthemen haben, so zielen die Filmgenres auf Kerngefühle: der Thriller auf Angst, der Horrorfilm auf Angst und Ekel, die Komödie auf Freude und Überraschung und die Teenager-Komödie auf Freude, Überraschung und Ekel. Bis heute kann keiner so genau sagen, warum wir Spaß an negativen Gefühlen haben. Irgendwie scheint es eine grundlegende Erfahrung zu sein: Wir erleben uns besonders dann als Menschen, wenn wir intensive Gefühle haben. Daher zahlen wir Geld, um auch negative Gefühle unter kontrollierten Bedingungen wohldosiert erleben zu dürfen. Das ist uns vielleicht nicht einmal klar, wenn wir die Kinokarte kaufen. Wie angenehm, dass dann der Bauch für uns entscheidet.
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Kapitel 2 Sprechen Das Spiel mit Bedeutung
«Mami nell laufen, Bieback holen», habe ich als kleiner Junge gesagt. Offenbar wusste ich damals genau, was ich wollte. Wie alle Kinder hatte ich allerdings Schwierigkeiten, Reibelaute zu formen, bei denen Gaumen, Zunge und Lippen den Luftstrom verwirbeln. Durch diese Zungenfaulheit wird «schnell» zu «nell» und «Zwieback» zu «Bieback». Auch die Satzstellung des Imperativs beherrschte ich noch nicht, geschweige denn die Höflichkeitsform mit dem Konjunktiv. Die Bedeutung meiner Worte schien allerdings klar zu sein: Ich wollte, dass meine Mutter mir einen Zwieback holt, und zwar sofort. Auch über die Funktion der Äußerung gibt es keinen Zweifel: Es handelte sich nicht um eine Frage oder Behauptung, sondern um eine Aufforderung.
Diese vier Aspekte meiner kindlichen Äußerung entsprechen den großen Gebieten der Sprachwissenschaft: Die Lauttheorie untersucht die materielle Form der Sätze, denn außer mit Buchstaben, Gesten und Gebärden kommunizieren wir vor allem mit Lauten. Die Grammatiktheorie untersucht die Struktur der Sätze, die Bedeutungstheorie, oder auch
Semantik
, deren Bedeutung und schließlich die Sprachhandlungstheorie, oder auch
Pragmatik
, die Funktion von Äußerungen im Kontext.
Philosophen haben sich immer für die Bedeutung unserer Worte interessiert. So verwundert es nicht, dass viele Theorien der heutigen Sprachwissenschaft von Philosophen stammen. Überraschend ist dabei, dass die meisten Sprachtheorien heutzutage ohne Wissen in formaler Logik und Computertheorie nicht mehr verständlich sind.
Sprache und Sprachen
Doch zuerst zur naheliegenden Frage: Was ist eine Sprache? «Sprache» ist ein schillerndes Wort. Wir kennen die Sprache der Blumen und der Bienen, außerdem Computersprachen, das Deutsche, wie es Goethe geschrieben hat, und dessen vermeintlichen Verfall. Wir meinen mit «Sprache» offenbar verwandte Phänomene, aber nicht immer dasselbe: den emotionalen Ausdruck, die Kommunikation der Tiere, den Programmcode, die natürliche Sprache wie Deutsch, Chinesisch oder Suaheli und manchmal den guten oder schlechten Stil.
Philosophen und Sprachwissenschaftler untersuchen vor allem die Sprachfähigkeit des Menschen, die Gabe, eine natürliche Sprache zu erwerben und zu beherrschen. Wenn außerhalb der Wissenschaft über die Sprache debattiert wird, denken die meisten an Wörter, und dabei besonders an Rechtschreibung und Stilkritik: vielleicht an verpönte Anglizismen wie «das macht Sinn», an unschöne Abkürzungen wie «Perso» und «Caipi» oder an die Worthülsen der Politik, die Eckhard Henscheid
Dummdeutsch
nennt, wie «zurückrudern», «zynisch und menschenverachtend» oder «Trauerarbeit».
Tatsächlich halten nur wenige Forscher einzelne Wörter, die Rechtschreibung oder den Sprachstil für wissenschaftlich ergiebig.
Erstens sind die meisten Sprachen der Welt nicht verschriftet. Auch wenn die Rechtschreibreform immerwährend, vor allem immer während der Schulzeit, die Gemüter der Deutschen in Aufruhr versetzt, ist die Verschriftung ein Randgebiet der Linguistik, zumal in vielen Schriftkulturen, wie zum Beispiel in England, gar keine Kommissionen für Rechtschreibung existieren.
Zweitens fehlen vielen Sprachen Wörter, wie wir sie kennen, als klar abgegrenzte sprachliche Einheiten, zum Beispiel dem
Shoshone
, einer Sprache der Ureinwohner Nordamerikas. Dort bestehen Sätze aus einem Verb, in das man die anderen Satzteile einsetzt, so als würde man aus «Romeo umarmt Julia» «Um-Romeo-arm-Julia-t» machen. Nach diesem Prinzip funktionieren viele der nord- und
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